Von Schwund und Überschuß

■ Übermorgen beginnt die "Internationale Konferenz für Bevölkerung und Entwicklung in Kairo" / Wen schickt die Bundesregierung hin, und warum spielt in ihrem Bericht zur Konferenz die "Angst der Deutschen um ...

Übermorgen beginnt die „Internationale Konferenz für Bevölkerung und Entwicklung in Kairo“ / Wen schickt die Bundesregierung hin, und warum spielt in ihrem Bericht zur Konferenz die „Angst der Deutschen um den erarbeiteten Wohlstand“ eine so große Rolle?

Von Schwund und Überschuß

Zunächst sah alles ganz harmonisch aus: Anfang des Jahres hatten die Regierungen Japans und der Vereinigten Staaten „drastische Erhöhungen“ ihrer Finanzhilfen für bevölkerungspolitische Maßnahmen in „Entwicklungsländern“ zugesagt. Clintons Berater Timothy Wirth forderte auch die Bundesregierung auf, ihren Etat für Bevölkerungspolitik – 1993 waren es 155 Millionen Mark – aufzustocken. Damit schienen die Weichen für die diesjährige Weltbevölkerungskonferenz in Kairo gestellt. Nord und Süd, Regierungen und NGOs würden würden an einem Strang ziehen, um das Wachstum der Weltbevölkerung – sofern sie auf der südlichen Halbkugel zu Hause ist – aufzuhalten.

Nun scheint die Frage der Abtreibung – wie schon auf der letzten Weltbevölkerungskonferenz vor zehn Jahren – erneut zum Streitpunkt zu werden. (Die USA hatten damals dem UN-Bevölkerungsfond die Mittel gekürzt, weil dieser Abtreibungen befürworte und die Ein-Kind-Politik in China unterstütze.) Der Schulterschluß zwischen dem Vatikan und verschiedenen islamischen Würdenträgern hat den Optimismus derer gedämpft, die auf eine globale Einheit zur Rettung der Erde mit den Mitteln der Bevölkerungskontrolle setzen. In Kairo ist ein hartes Ringen um die Formulierungen im Weltbevölkerungsaktionsplan zu erwarten, der am Ende der Konferenz verabschiedet werden soll. Der deutschen Delegation kommt dabei besonderes Gewicht zu: Nicht nur ist die Bundesrepublik weltweit eine der größten Geldgeberinnen für Bevölkerungspolitik. Sie hat derzeit zudem die Präsidentschaft der Europäischen Union inne und damit die Aufgabe, die Initiativen der EU-Staaten in Kairo zu koordinieren.

Etwa dreißig Delegierte reisen im Auftrag der Bundesregierung dieser Tage nach Kairo, darunter zahlreiche NGO-Vertreter und einige -Vertreterinnen. Das politische Spektrum, dem sie entstammen, ist eher begrenzt ist. Anders als beim Umweltgipfel in Rio, waren Gruppen mit einer radikalen Kritik an Bevölkerungspolitik von vorneherein nicht in den Dialog einbezogen. Andere, wie etwa das Medienbündnis „eine Welt für alle“ lehnten die Einladung zur Mitarbeit in der nationalen Vorbereitungskommission ab.

Keine Alternativgruppen in der deutschen Delegation

So sind auch keine entwicklungspolitisch engagierten Alternativgruppen in der Delegation vertreten, sondern halboffizielle, eher regierungsnahe Institutionen wie die Deutsche Welthungerhilfe, die Deutsche Stiftung Weltbevölkerung, die Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen (DGVN), die Deutsche Stiftung für internationale Entwicklung, der Deutsche Frauenrat und das Komitee zur Katastrophenvorbeugung IDNR. Außerdem die evangelische und katholische Kirche.

Die Zusammenarbeit zwischen Regierungs- und NGO-Delegierten, so ist aus dem Bundesinnenministerium zu vernehmen, sei ausgesprochen gut. Man werde sich auf der Konferenz in Kairo ständig beraten, die NGOs hätten jedoch ihr eigenes Forum. Im Falle von Meinungsverschiedenheiten in bezug auf das Vorgehen bei der Konferenz der Vereinten Nationen entscheiden daher die Regierungsdelegierten. Sie stellen denn auch die Mehrheit der deutschen Delegation: VertreterInnen der einschlägigen Ministerien (Frauen und Familie, Arbeit, Wirtschaft sowie das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und die ihm zugeordnete Gesellschaft für technische Zusammenarbeit). Das Land Hessen schickt einen Vertreter für alle Bundesländer nach Kairo. Und last not least ist auch das Wiesbadener Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung durch seine Direktorin Charlotte Höhn vertreten.

Die Sorgen der Bundesregierung

Ihre eigene Position zu bevölkerungspolitischen Fragen hat die Bundesregierung vorab in einem „Bericht für die Internationale Konferenz für Bevölkerung und Entwicklung 1994“ dargelegt, an dem ebenfalls NGO-VertreterInnen mitgearbeitet haben. Darin ist zu lesen, daß die Zahl der Deutschen mittel- bis langfristig abnimmt, während der Anteil der AusländerInnen an der Bevölkerung wächst. Ursache dafür sei sowohl der „Geburtenüberschuß“ bei Immigrantinnen als auch der „sehr starke Zuwanderungsdruck“, dem Deutschland „durch Ausländer aus Nicht-EU-Staaten ausgesetzt“ sei. Was daran problematisch ist, wird in dem Bericht so erklärt: „Die Verkennung der Bedeutung ... des Asylrechts durch die Asylsuchenden hat auch Auswirkungen auf die Akzeptanz der Asylbewerber in der Bevölkerung: Von manchen wird die Gefährdung des erarbeiteten Wohlstands sowie der Verlust von Arbeitsplätzen, Wohnungen und Lebenschancen befürchtet. Diese Sorge hat die Bundesregierung bei der Gestaltung ihrer Ausländer- und Integrationspolitik zu berücksichtigen.“ Der Angst und den „Lebenschancen“ der ImmigrantInnen, die in der Bundesrepublik einem zunehmend gewalttätigen Rassismus ausgesetzt sind, fühlt sich die Regierung offenbar weniger verpflichtet – im Bericht findet sich darüber kein Wort. Auch auf die Frage, wer überhaupt Deutscher ist und ob nicht eine doppelte Staatsbürgerschaft zum Beispiel für Türken der zweiten Generation wünschenswert wäre, geht der Bericht nicht ein. Auch in Zukunft, so scheint es, wird nur ein „Deutscher“ deutsch sein dürfen.

Der Geburtenschwund unter den Deutschen verschiebt nicht nur die Zahlenproportionen gegenüber denjenigen EinwohnerInnen, die im Bericht säuberlich getrennt als „Aussiedler“, „Ausländer“ und „Asylbewerber“ aufgeführt sind, sondern schafft vor allem Probleme bei der Finanzierung von Rentenversicherung und Gesundheitsversorgung, langfristig möglicherweise auch auf dem Arbeitsmarkt.

Trotz ungünstiger Prognosen für die demographische Entwicklung will die Bundesregierung diese jedoch nicht direkt beeinflussen, sondern vielmehr die negativen Auswirkungen durch Maßnahmen in anderen Bereichen kompensieren: neue Rentenversicherungsmodelle, eine gelenkte befristete Einwanderung von Arbeitskräften (Werkverträge) und Rationalisierung. Eine direkte Bevölkerungspolitik lehnt die Bundesregierung ab – jedenfalls innerhalb der deutschen Grenzen. „Pronatalistische Politiken“, so wird nebenbei erwähnt, habe es während des Nationalsozialismus und in der ehemaligen DDR nach 1976 gegeben, sonderlich erfolgreich seien sie jedoch nicht gewesen. Familienpolitik habe eine „eigenständige Bedeutung“, sie soll nicht bevölkerungspolitischen Zwecken dienen, auch wenn „als erwünscht angesehene demographische Nebeneffekte eintreten können“. Der Staat habe vielmehr „die freie Entscheidung der Eltern über Zahl und Zeitpunkt der Geburt ihrer Kinder zu gewährleisten“.

Für die „Dritte Welt“ gelten jedoch offenbar andere Maßstäbe. Dort sollen Bevölkerungsgröße und -struktur „mit der wirtschaftlichen und sozialen Leistungsfähigkeit“ des jeweiligen Landes in Einklang gebracht werden. Auch die Bundesregierung macht in diesen Ländern Bevölkerungspolitik, hat sie gar zu einem „fachlichen Schwerpunkt in ihrer Entwicklungszusammenarbeit der neunziger Jahre erklärt“. Die „Entwicklungsländer haben sich quantitative Ziele zur Verlangsamung des Bevölkerungswachstums gesetzt“, so heißt es in dem Bericht – und die Bundesregierung assistiert bei deren Umsetzung. Susanne Heim