Therapeutische Etüden

„Das Haus“ und „Claustrophopia“: Das Maly Theater aus St. Petersburg war bei den Berliner Festwochen mit zwei Inszenierungen vertreten  ■ Von Oksana Bulgakowa

Vier Balken schweben im schwarzen Raum der leeren Bühne wie Stufenbarren. Doch wird darauf nicht geturnt – sie deuten ein Haus an, nicht als imaginären Raum, sondern als Metapher. Denn dieses Haus existiert nur für die Helden der älteren Generation. Weder deren Kinder, geschweige denn die nichtrussischen Zuschauer könnten es fassen, verstehen und – erblicken. Das Haus löst sich am Ende der vierstündigen Aufführung ganz auf. Übrig bleiben ein Balken und ein grüner Knopf. Soviel zur Bühne von Eduard Kotschergin im ersten Gastspiel der Petersburger Maly Drama Theaters in Berlin: Fjodor Abramows „Haus“ in der Regie von Lew Dodin.

In der zweiten Inszenierung – „Claustrophobia“ – werden die perspektivisch zusammenlaufenden Wände mehrmals durchbrochen, doch der helle Raum von Alexei Parai-Koschits bleibt geschlossen. Beides, sowohl das gesuchte Haus als auch die gefürchtete Eingeschlossenheit, gehören zur Imaginationsebene, sind Sehnsüchte und Ängste verschiedener Generationen, und genau darum ging es Lew Dodin in den beiden Inszenierungen, die er bei den Festwochen zeigt. Sie sind aus unterschiedlichen Anlässen und im Abstand von vierzehn Jahren entstanden, trotzdem bilden sie eine konzeptionelle Einheit.

„Das Haus“ wurde 1980 aufgeführt, lange vor der Perestroika. Die Schauspieler, ein ganzes Studienjahr des damals noch unbekannten Dodin, nahmen sich einen Roman des Dorfprosaikers Fjodor Abramow vor und versuchten dessen harte, naturalistische Prosa zu spielen. Städter erzählten die Sage einer Bauernfamilie aus dem Norden Rußlands als Geschichte des Sowjetstaates. Damals, 1980, als sie diese Prosa an zwei Abenden als „Brüder und Schwestern“ und „Das Haus“ aufführten, war für die sowjetische Bühne das öffentlich im Theater ausgesprochene Wort (über Lager, Hunger, Entbehrungen, sinnloses Wirtschaften nach der Laune der Parteiführer) wichtig. Die Kritiker waren begeistert von der nachgeahmten nördlichen Aussprache, vom Pathos, vom Realismus der Details. Jetzt ist in der Aufführung das Schweigen am beeindruckendsten. Die Aussprache der Schauspieler ist künstlich, das Pathos der langen Monologe wirkt abgearbeitet, der atmosphärische Reiz der Kleidung aus dem Dorfgeschäft, die damals durch ihre Echtheit bestach, geht heute unter. „Brüder und Schwestern“ wurde bereits 1989, nach dem Hamburger Gastspiel beim „Theater der Welt“ in der Schaubühne am Lehniner Platz gezeigt. Jetzt folgte an gleicher Stelle „Das Haus“.

Der Geruch echter russischer Stiefel mischt sich dort mit dem von französischen Parfüms aus dem Saal. Nicht das Wort ist relevant, sondern die Dichte der metaphorischen Dimension, die die alte Inszenierung erlangt hat und plötzlich den Zustand nicht eines Dorfes, nicht einer Familie, sondern eines ganzen zusammengebrochenen Landes reflektiert: Das Haus, das Generationen von Bauern gebaut hatten, das ihre Kinder und Enkel trotz Revolutionen, Enteignungen und Kriegen zu erhalten suchten – als einen Raum für das historische Gedächtnis – wird am Ende gnadenlos zerstört. Dabei geht es weniger um eine eigentliche Handlung (Ein versoffener Vagabund verkauft das Haus der Ahnen als Holz, die Erbin stirbt unter einem herabgestürzten Balken) als um den Zustand, den die Helden nicht bemerken wollen: zwischen den Vätern und ihren Kindern liegt ein Abgrund, der nicht mehr zu überbrücken ist. Die Werte, die für Väter noch galten und die sie in langen Monologen zu vermitteln trachten, sind für Kinder hohle Worte. Sie sind zwar hier aufgewachsen, doch sie gehen weg.

Die hinterlassene Leere ist weder mit neuen Bauten noch mit alten Worten zu füllen. Die „Klaustrophobie“ läßt die Reflexion der Vätergeneration über die Geschichte Rußlands mit der Sicht der Kinder auf die Vergangenheit und Gegenwart kollidieren.

Der Kontrast ist provozierend. Dort, wo die Väter sprechen (im Stehen oder Sitzen), drücken sich ihre Kinder durch Bewegung aus. Der kleine geschlossene Raum bietet ihnen unerwartete Möglichkeiten. Die zwei Stunden dauernde Inszenierung, die in der Berliner Volksbühne gezeigt wird und die Dodin als französische Auftragsproduktion mit seinen Schauspielschülern ausgearbeitet hat, ist halb Ballett, halb Turnstunde: die trainierten Jungen und Mädchen erklettern Wände, Seile, durchbrechen den Fußboden, die Decke. Das Wort ist unwichtig, wichtig dagegen die phonetische Wortakrobatik, die den Sinn durch Ausstellen der Sinnentleerung artikuliert.

Die Texte von Wladimir Sorokin („Die Schlange“, „Pelmeni“) und Wenedikt Jerofejew kamen den improvisierenden Schauspielschülern zu Hilfe, als sie nach einem Jahr Proben schließlich doch auf das Wort zurückgreifen wollten. Die Kinder begreifen sich als Opfer der Klaustrophobie, sie leiden unter der Glocke des Hauses, die ihre Väter als Festung für Jahrhunderte aufgebaut haben.

Sie erzählen die Geschichte ihrer Unterordnung, Geschichten von Outsidern – homosexuellen Dichtern, verklemmten Schülern, Krüppeln, Alkoholikern, Wahnsinnigen, Prostituierten, Bettlern. Zu diesen Outsidern gesellt sich auch Lenin. Dessen Leichnam beklagt, daß man ihm die Seele abgesprochen hat, als man seinen Körper nicht in der Erde ruhen ließ (So konnte sich die Seele nicht vom Körper lösen). Der Leichnam feiert eine traumhafte Auferstehung: seine Bahre wird zur Schaukel, die ihn zum Himmel, zur Theaterdecke bringt.

Er ist der erste, der die Decke durchbricht. KGB-Offiziere veranstalten ein teuflisches Spiel mit dem Volk, dem Vieh, und brechen in den Boden, die theatralische Hölle ein. Das Tanzstudio wird am Ende fast auseinandergenommen. Die Spielenden versuchen sich in den therapeutisch-tänzerischen Etüden von ihren Raumphobien zu lösen, doch in harter Arbeit und vielen körperlichen Lockerungsübungen bleibt der Geist gefangen.

Die tiefe russische Depression, die das „Haus“ auslöst, sollte eigentlich im Spielerischen des zweiten, „europäischen“ Abends aufgehoben werden. Beide Inszenierungen zeigten jedoch, daß die Väter wie die Kinder, die alte wie die junge Generation, in ihren Vorstellungen eingeschlossen sind und daher lebensunfähig. Allein, Dodin konnte – als Theatermann – den Phobien ein beeindruckendes Theaterspiel abringen, wenn auch ohne therapeutische Effekte.