Zwischen Minnie Mouse und Castro

Einen Monat nach den Unruhen von Havanna und trotz ungebremster Fluchtbewegungen beginnt in Kuba die Schule / Am Bildungssystem wird – trotz Wirtschaftskrise – nicht gerüttelt  ■ Aus Havanna Bert Hoffmann

Der kleine Gustavo* schreit und kräht, als ob er genau wüßte, daß sich sein Leben von nun an dem unbarmherzigen Rhythmus einer Fünftagewoche unterzuordnen haben wird. Er will nicht so früh aufstehen und will seine Milch nicht trinken und will nicht die Haare glattgestriegelt bekommen. Es hilft nichts. Er muß raus: Schulanfang.

Ein großer Tag in Kuba. Die Kinder sind unsicher, und ihre Eltern sind stolz. Und auch für die Regierung Fidel Castros ist dieser Beginn des neuen Schuljahres wichtiger als in anderen Jahren. Seit drei Tagen bestimmt der Schulbeginn die Nachrichten des kubanischen Fernsehens – während sich die Politik auf den Verhandlungspoker mit den USA konzentriert. Denn in Havanna ist der Schulanfang ein dringend benötigtes Signal für die Rückkehr zur Normalität – nach einem Monat, in dem zuerst der offene Aufruhr am 5. August und dann die Massenflucht Tausender Kubaner die Gesellschaft zerrissen haben wie seit den ersten Revolutionsjahren nicht mehr.

Das Bildungssystem ist eine der zentralen Errungenschaften der kubanischen Revolution. Und die Regierung Fidel Castros bemüht sich nach Kräften, den jetzigen Schulanfang zur Erneuerung ihrer Legitimation zu benutzen. „Libertad! Libertad!“ hatten die Protestierenden am 5. August gerufen. Die Staatsmacht, die die Zügel wieder in der Hand hat und um die Politik der Symbole weiß, antwortet ihnen: Die große Zeremonie für den Beginn des neuen Schuljahres wird dieses Jahr in – eben – „Libertad“ stattfinden, einer Kaserne der Batista-Diktatur, die die Revolutionsregierung nach 1959 zum Hauptquartier der landesweiten Alphabetisierungskampagne gemacht und auf den Namen „Freiheit“ getauft hat.

Auch in der Vorschule „10. April“, in die der kleine Gustavo heute eingeschult wird, herrscht Ordnung. In der Eingangshalle hängt eine große Pappfigur von Minnie Mouse und hinter dem Schreibtisch der Direktorin das Bild von Fidel Castro. Und heute, zum Schulanfang, ist allen Jungen das Haar gescheitelt worden – außer den Schwarzen, deren krauses Haar sich dieser Maßnahme mit Erfolg verweigert. Den Mädchen sind – ohne Ausnahme – die Haare durch Schleifen aus Tüll oder bunte Haargummis gebändigt worden. Es ist ein großer Tag. Etliche Mütter haben sogar Lippenstift aufgelegt, morgens um acht und in einer Zeit, in der jegliche Kosmetik zum Luxusgegenstand geworden ist, der nur noch für Dollars zu haben ist.

Gustavo schaut noch immer etwas gequält drein, aber er zeigt Tapferkeit vor den anderen. Dabei sucht er allerdings immer wieder die Hand seiner Mutter. Sein Vater ist nicht da, er ist in Miami, seit bald einem Jahr. Von dort schickt er die Dollars, die die Familie über die Runden bringen. Neulich hat er auch eine Videokassette gesandt, auf der er Faxen für die Kinder macht, die Primaballerina „Ich- tret-dir-auf-den-Fuß“ imitiert und Gustavos älterem Bruder streng ins Gewissen redet, die Schule in diesem Jahr ernster zu nehmen. Familias de larga distancia nennt das Gustavos Onkel Alberto: „Ferngesprächsfamilien“. Die Späße per Video atmen Traurigkeit und Trennung. Jetzt muß der Fotograf aber schnell noch Gustavo knipsen, damit der Papa ein Bild von seinem Sprößling bei der Einschulung geschickt bekommt.

Dann wird's ernst. Die Lehrerinnen bitten die Eltern hinaus in den Garten der einstigen Villa. Dann kommen die Kinder hinausmarschiert, aufgereiht in Reih und Glied. Die erste Lektion ist gelernt. Und sie stehen brav da, während die Direktorin das neue Schuljahr eröffnet. „Sie alle wissen ja, wie die Zeiten sind“, beginnt sie nach einem kurzen Willkommen. „Und in der Schule geht es uns nicht besser als Ihnen zu Hause." Die Eltern sollen mithelfen. „Wir haben hier kein Gas und müssen mit Holz kochen. Also: Jeder, der etwas Feuerholz mitbringen kann oder auch anderes, was die Schule braucht, Papier, Stifte, Spiele...“ Im Flur der Schule stehen kleine Stühle und Tische für die Kinder, die Eltern oder Lehrer aus Pappmaché selbst gebaut haben.

„Wir werden diese Vorschule auf keinen Fall schließen. Das Schuljahr hat angefangen, und wir werden es zu Ende führen“, sagt die Direktorin mit Nachdruck, aber ohne das Pathos, mit dem das Staatsfernsehen am Abend zuvor diese Botschaft verkündet hatte.

Auch Kubas Bildungssystem wird von der dramatischen Wirtschaftskrise schwer gebeutelt, ohne Frage. Noch immer gehen alle kubanischen Kinder in die Schule – was in kaum einem anderen Land Lateinamerikas der Fall ist und in der gegenwärtigen Krise Kubas eine Leistung darstellt, die Respekt verdient. Doch dem einstigen Wohlfahrtsstaat des socialismo tropical ist die materielle Basis weggebrochen, und die Schulen machen da keine Ausnahme. Die Gebäude stehen, doch drinnen fehlt es an allem – und in einer Vorschule ist das Improvisieren einfacher als in Chemielaboren an der Uni. Woher die Schüler und Studenten Papier und Stifte organisieren, müssen sie selbst sehen. Für Pesos zu kaufen gibt es sie nicht. Ein Professor für Architektur ist von einer Reise nach Deutschland unlängst mit Hunderten von Billigkugelschreibern zurückgekommen, damit seine Studenten was zum Schreiben haben.

Karrieresprung vom Lehrer zum Lagerarbeiter

Die Finanzkrise des Staates hat mittlerweile sogar die einst heilig gehaltene Kostenlosigkeit des kubanischen Bildungssystems angekratzt. Für das Essen, das in der Vorschule „10. April“ auf Holzfeuer gekocht wird, müssen die Eltern dieses Jahr zum ersten Mal bezahlen. Und auch die obligatorische Schuluniform gibt es nicht mehr gratis.

Ein weitaus größeres Problem für das kubanische Bildungssystem ist jedoch der eklatante soziale und materielle Niedergang des Lehrerberufs. Antonio González hat deswegen seinen Beruf an den Nagel gehängt. Er war Sport- und Biologielehrer an einer Oberschule. Jetzt stapelt er Kisten in der Lagerhalle des größten Dollarshops von Havanna. Im Kuba der 90er Jahre ist das ein Karrieresprung. Denn die Zeiten sind vorbei, in denen die Lehrer als Rückgrat der Revolution galten, hohes Ansehen genossen und gut bezahlt wurden. Heute ist ihr Peso-Gehalt nichts mehr wert, weil Dollar und Schwarzmarkt regieren. Der Fleischer ist König, und der Lehrer geht leer aus. Von alten Kollegen, sagt Antonio González, wird er um seinen neuen Job beneidet. Er ist jetzt zwar Lagerarbeiter, doch in der Dollarwelt ist er aufgestiegen. Wenn ein Stück Käse nicht durch seine Hände geht, sondern in ihnen verbleibt, bekommt er dafür auf dem Schwarzmarkt mehr als für sein Monatsgehalt als Lehrer.

„Die Unzufriedenheit ist groß“, bestätigt Maria Quezada, die als Sekretärin im Erziehungsministerium in Havanna arbeitet. „Viele Lehrer haben gekündigt.“ Andere seien kaum noch motiviert. Und etliche Lehrer sind auch von oben „umgesetzt“ worden, um die Personalkosten zu senken. „Aber wir versuchen trotzdem alles, um den normalen Schulbetrieb aufrechtzuerhalten“, sagt Maria Quezada. Im Erziehungsministerium selbst war der Personalabbau drastisch. 2.000 Angestellte waren sie hier, sagt Maria, und jetzt sind sie noch 300. Zwei Drittel des riesigen Gebäudes stehen leer. Und um Strom zu sparen, wird im Ministerium zweimal in der Woche nur noch halbtags gearbeitet.

Maria Quezada kommt aus Guanabo, einem kleinen Ort im Osten Havannas. Guanabo liegt direkt an der Küste. Von hier starteten Hunderte zu ihrer Flucht auf halsbrecherischen Flößen. Für die Schulbehörden herrscht nun Ausnahmezustand. „Die halbe Jugend ist weg“, erzählt Maria. „Und manche Lehrer auch. Zum Schulanfang machen wir jetzt erst einmal eine Erhebung, wer überhaupt noch da ist.“

Im Gebäude des Erziehungsministeriums in Havanna sind zwei Fensterscheiben notdürftig durch Holzplatten ersetzt. Die Demonstranten vom 5. August zogen vom Hafen hier durch die O'Reilly- Straße, berichtet Maria. Sie hat gearbeitet an dem Tag. Mit zwei kaputten Scheiben sei man noch glimpflich davongekommen, befindet sie und lacht dann: „Aber das war ja auch nicht gegen uns gerichtet!“

Bleistifte statt Bonbons in der Recycling-Piñata

Für sie, die im Erziehungsministerium arbeitet, scheint die Unterscheidung völlig klar zu sein: Sie ist Teil des Bildungssystems, das alle aufrechterhalten wollen, und nicht Teil der Regierung, gegen die sich die Proteste richteten.

In der Vorschule „10. April“ gibt es für die Kinder derweil die zweite Lektion in Sachen Staatsbürgerwerdung: die Nationalhymne. Die Gesichter sind ernst. Alle sollen mitsingen. Und viele der Knirpse kennen den Text: „Auf in die Schlacht, Ihr Bürger von Bayamo / damit das Vaterland stolz auf Euch ist / habt keine Angst vor dem ruhmvollen Tod / denn für das Vaterland sterben heißt leben!“ Nein, diese Hymne ist keine Errungenschaft der Revolution. Schon der kleine Fidel Castro wird bei seiner Einschulung vom ruhmvollen Tod fürs Vaterland gesungen haben. Martialische Parolen wie „Sozialismus oder Tod!“ sind nicht vom Himmel gefallen, sondern stehen in einer Tradition von Macht und Herrschaft, die Castro lediglich variiert und zu neuen Höhen geführt hat.

In der Vorschule „10. April“ jedoch wird, nachdem dem Staat in Form von Fahne und Hymne der Tribut gezollt ist, schnell ein fröhliches Lied zum Mitklatschen angestimmt: „Laß die Traurigkeit sein, und sing mit uns ...“ Und dann gibt's Spiele für die Schulanfänger. Die beliebte „Piñata“: Eine Pappmachéfigur, die die Kinder eigentlich mit verbundenen Augen und einem Knüppel in der Hand so lange verdreschen müssen, bis sie aufplatzt und eine Ladung Bonbons sich auf den Boden ergießt. Die kritische Versorgungslage führt auch hier zu einer Sparversion. Die Kinder bringen die Piñata nicht mit Schlägen zum Aufplatzen, sondern dürfen an Schnüren ziehen, wodurch eine Klappe am Bauch der Puppe das Innenleben freigibt. Das ist zwar weniger spektakulär, aber die Figur bleibt wiederverwendbar. Und aus ihrem Bauch kommen auch keine Bonbons, sondern ein paar Bleistifte fallen heraus und viel Konfetti. Manche der Eltern mögen darüber wehmütig sein. Die Fünfjährigen hingegen, die hier eingeschult werden, haben jene besseren Zeiten ja nie erlebt, in denen auch in Kuba die Piñata ein Synonym für Süßigkeiten war. Am Ende seines ersten Schultages will der kleine Gustavo jedenfalls von seinen Tränen am Morgen nichts mehr wissen: „Schule ist toll“, strahlt er seine Oma an: „Ich mag Feiern nämlich gerne, weißt du.“

* (Alle Namen geändert)