■ Bevölkerungsforschung in Deutschland
: Alte Traditionen

Charlotte Höhn muß gehen, fordert die Internationale Liga für Menschenrechte. So richtig diese Forderung ist, so falsch wäre es, es nur bei personellen Konsequenzen zu belassen.

Der Fall Höhn wirft ein Schlaglicht auf das von ihr geleitete Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung, eine Institution, die – von der Öffentlichkeit kaum beachtet – seit Jahrzehnten kontinuierlich verschiedenen Ressorts der jeweiligen Bundesregierung zuarbeitet. Ob Rentenreform, Gesundheitsreform, Wohnungsbau oder Ausländergesetze, das Wiesbadener Institut forscht und berät bereits im Vorfeld und gibt mit seinen Publikationen und Forschungsberichten wesentliche Anstöße für die Politik.

Seine Gründung im Jahre 1973 geht auf die Initiative und langjährige Lobbyarbeit von Bevölkerungswissenschaftlern, Anthropologen und Statistikern zurück, die fast alle als Schreibtischtäter des NS-Regimes schwer belastet waren. Sie gründeten in den fünfziger Jahren die Deutsche Gesellschaft für Bevölkerungswissenschaft, und aus ihren Reihen kamen die ersten Statistiker und Bevölkerungswissenschaftler der Bundesrepublik.

Unverhohlen und unangefochten knüpfte diese Clique an nationalsozialistische Grundideen an, und ihre Ziehkinder schrieben diese Tradition fort. So reiht sich seit Gründung des Instituts eine Zumutung an die nächste: Mal wurden dort geburtenfördernde Maßnahmen wie das „Berufsmutter-Modell“ entwickelt (ausgewählte deutsche Frauen sollten sich zur Aufzucht von vier bis fünf Kindern verpflichten und dafür den Beamtenstatus erhalten), mal stellte man Modelle zur Ausgrenzung und Ausgliederung ausländischer Arbeiter zur Diskussion oder berechnete die „Alterslastquote“, das heißt die Belastung der Gesellschaft durch den zukünftigen „Rentnerberg“. Die Publikationen des Instituts beschäftigen sich ganz „wertfrei“ auch schon mal mit der Frage, welche bevölkerungspolitischen Auswirkungen die Einführung von Zwangssterilisierungen oder die Förderung der „Sterbehilfe“ haben würden.

All das sind nur die Spitzen eines Eisbergs, dessen verborgenes Ausmaß ungeahnte Dimensionen haben könnte: Möglicherweise liegt in Wiesbaden ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis der Entstehung der gegenwärtigen Ausländerfeindlichkeit. Denn welche Daten, Modelle und Szenarien sind aus einem Institut zu erwarten, dessen führende Exponenten Anhänger eugenischen, nazistischen und ausländerfeindlichen Gedankenguts sind?

Es rächt sich jetzt, daß Parlamente, kritische Öffentlichkeit und Medien die Geschichte und die Tätigkeit dieses Instituts niemals kritisch unter die Lupe genommen haben. Nicht der Rausschmiß von Charlotte Höhn – eine Auflösung dieses Instituts und ein parlamentarischer Untersuchungsausschuß sind die einzig angemessene Lösung. Ludger Weß

Wissenschaftsjournalist, lebt in Hamburg