Viele wissen, daß sie nicht bleiben können

■ Für die Mehrheit der ausländischen jugendlichen Flüchtlinge, die ohne Eltern in die Bundesrepublik kommen, erweist sich das Asylverfahren als Sackgasse / Ihre Betreuer fordern ...

„Wir wollten gar nicht nach Deutschland“, sagt die 15jährige Äthiopierin Eyerusalem ruhig und beherrscht. Ihrer ein Jahr jüngeren Schwester Teguist ist anzusehen, wie traurig sie ist. Drei Monate lang lebten die beiden bei ihrem Onkel in Moskau. Dann fielen ihm die beiden Mädchen zu sehr zur Last. Er schickte sie kurzerhand nach Deutschland, wo sie keine Menschenseele kennen. Ja, sie sei sauer auf den Onkel, sagt Eyerusalem, und für einen Moment ist auch ihr anzumerken, daß sie sich völlig im Stich gelassen fühlt. „Er hat nichts für uns getan. Er hat uns noch nicht mal in die Schule geschickt, weil das zu teuer gewesen wäre“, sagt sie bitter. Wo ihre Mutter ist, wissen die Geschwister nicht. Seit zwei Jahren haben sie nichts von ihr gehört. „Die Leute sagen, sie lebt noch“, sagt Teguist, und das klingt, als klammere sie sich an dieser Versicherung fest. Ihr Vater, ein Rathausangestellter in der nordäthiopischen Stadt Asmara, sei 1992 von der EPLF ermordet worden. Danach sei die Mutter nach Addis Abeba gegangen und nie zurückgekommen. Seitdem lebten sie bei einer Freundin der Mutter.

Seit zwei Wochen sind die Mädchen in Berlin, in einem Erstaufnahmeheim für jugendliche Flüchtlinge in Treptow. Zur Freundin der Mutter könnten sie nicht zurück, sagen sie. Sie hoffen, in Berlin die Schule beenden und eine Ausbildung machen zu können. „Sie sind sehr zielstrebig“, sagt ihr Deutschlehrer. Eyerusalem will Ingenieurin werden, Teguist Krankenschwester.

Etwa 1.700 „unbegleitete Jugendliche“, so der Fachjargon, durchlaufen pro Jahr die beiden Erstaufnahmeheime in Treptow. Eyerusalem und Teguist gehören zu den wenigen Mädchen, 90 Prozent der jugendlichen Flüchtlinge sind Jungs. Die größte Gruppe kommt aus Rumänien, an zweiter Stelle stehen Vietnamesen. Die drittgrößte Gruppe stellen türkische Kurden, gefolgt von Palästinensern aus dem Libanon. 26 Nationen verzeichnet die Heimstatistik des vergangenen Jahres. Entsprechend unterschiedlich ist die Situation der Jugendlichen. Die einen kommen aus einem Bürgerkriegsland wie Angola oder Afghanistan oder fliehen vor politischer Verfolgung, andere wiederum sind „nur“ auf der Suche nach einer besseren Zukunft.

In einer sogenannten Clearingstelle in den Erstaufnahmeheimen wird zunächst geklärt, ob es für sie eine Möglichkeit gibt, nach Hause zurückzukehren. Denn die wenigsten haben Chancen, Asyl zu bekommen. Die Anerkennungsquote Jugendlicher schätzt das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge auf unter zehn Prozent.

Für die Mehrheit erweist sich das Asylverfahren als Sackgasse. Solange ihr Asylantrag die Instanzen durchläuft, gewinnen sie zwar Zeit, können aber hier keine Perspektive entwickeln. Arbeiten oder eine Ausbildung beginnen, dürfen sie nicht. Der Schwebezustand macht vielen zu schaffen.

„Viele haben psychosomatische Störungen“, sagt Psychologin Eva Sommer. „Sie leiden unter Schlaf- oder Eßstörungen. Sie machen sich große Sorgen um ihren Aufenthaltsstatus oder um Familienangehörige, die in der Heimat in Gefahr sind.“ Oft würden sie auch an Schuldgefühlen leiden, weil sie selbst in Sicherheit sind.

„Für viele Kinder wäre es besser, wenn sie so schnell wie möglich zurück könnten“, sagt Jochen Hayung, Mitarbeiter des UNO- Flüchtlingskommissars in Bonn. „Gerade die jüngeren Kinder verlernen in der Zwischenzeit ihre Muttersprache und werden ihrer früheren Umgebung entfremdet.“ Je länger sie hier sind, desto schwieriger werde es auch, herauszufinden, ob es jemand gebe, der sich bei ihrer Rückkehr um sie kümmern kann.

Auch Heimleiter Sigward Simon ist sich des Dilemmas bewußt. „Das Asylverfahren ist die einzige Möglichkeit, einen Aufenthaltsstatus zu erreichen.“ Versuche von Vormündern, aus humanitären Gründen eine Duldung durchzusetzen, seien langwierig und selten erfolgreich.

Der fast 18jährige Emanuel aus Nigeria hofft auf einen positiven Ausgang seines Asylverfahrens. Er floh vor einem halben Jahr, weil ihm als Mitorganisator einer Demonstration eine lange Haftstrafe drohte. Der lebhafte junge Mann, der gerne Jura oder Politikwissenschaft studieren möchte, nutzt die Zeit, um stapelweise Bücher zu lesen. Sein größtes Problem ist allerdings, daß er noch keinen Platz in einer Schule bekommen hat. Die Zeit drängt, denn in zwei Monaten wird er 18 und ist nicht mehr schulpflichtig. Dann hat er keine Chance mehr, einen Schulabschluß zu machen.

„Die Rumänen wissen vorher, daß sie hier nicht bleiben können. Die kommen völlig illusionslos hierher“, sagt einer der Sozialbetreuer. Zumindest auf den 15jährigen Robert aus einem 1.500-Seelendorf in Moldawien trifft dies nicht zu. Der Bauernsohn, dessen Eltern kein Geld hatten, ihn in eine Tischlerlehre zu schicken, hatte gehofft, hier arbeiten zu können. Mit den Ersparnissen wollte er sich zuhause eine Existenz aufbauen. Jetzt versucht er, von den 7,34 Mark Verpflegungsgeld und den 2,66 Mark Taschengeld am Tag, etwas beiseite zu legen. „Es wäre besser, wenn ich arbeiten könnte“, sagt der ruhige Junge. Auch der schüchterne 13jährige Corner, der aus dem gleichen Dorf stammt, hoffte, Geld verdienen zu können. Zuhause hat er bei der Feldarbeit geholfen. Für seine Familie sicherte die Landwirtschaft gerade mal das Überleben.

Die beiden gehören zu den wenigen Heimbewohnern, die eine Eingliederungsklasse in einer Treptower Schule besuchen. „Die beiden sind in der Schule sehr fleißig“, lobt die Sozialbetreuerin Aurora, die sich wie eine Mutter um die Jungs kümmert. Die Zeiten, in denen viele Straßenkinder aus Bukarest kamen, seien vorbei, korrigiert sie das gängige Bild. Jetzt kämen die Jugendlichen zu 80 Prozent aus den ländlichen Gebieten Moldawiens.

Solange sie unter 16 Jahren sind, schützt sie das Haager Minderjährigenschutzabkommen davor, in ihre Heimat abgeschoben zu werden. „Manche kehren aber auch freiwillig zurück, wenn sie einsehen, daß sie hier keine Perspektive haben“, so Heimleiter Simon.

„Man sollte den jungen Flüchtlingen zumindest eine Ausbildung ermöglichen, damit sie mit etwas Sinnvollem in den Händen zurückgehen“, sagt Psychologin Eva Sommer. Bisher gelingt das nur den allerwenigsten. Dorothee Winden