■ Zur Haushaltsdebatte 95 im Bundestag
: Jenseits der Argumente

Wahlkampf in der Halle, Wahlkampf im Stadion, Wahlkampf im Parlament. Hat jemand ernstlich damit gerechnet, daß die Auseinandersetzung über den Haushalt 95 nicht von suggestiver Polemik, gespielter und aufgesetzter Souveränität, von Unterstellung und Versprechungen bestimmt sein würde, die den einzigen Zweck verfolgen, im Kampf um die Stimmen am 16. Oktober Boden gutzumachen oder den Vorsprung auszubauen? Wohl kaum. Und so kam es: Des Kanzlers Redeziel bestand neuerlich darin, schon das bloße Ansinnen eines politischen Wechsels in absurdes Licht zu rücken. Das betreibt er längst nicht mehr mit Argumenten, dem Verweis auf seine Verdienste oder mit den obligatorischen Einschüben jovialer Selbstkritik. Das alles kommt zwar noch vor. Doch es fungiert nur noch als Material für die Selbstinszenierung eines Kanzlers, der, je ungenierter er über die Niederungen konkreter Politik aufsteigt, je weiter er abhebt, sich den „Menschen im Lande“ immer mehr anzugleichen scheint. Auch wer die Umstände der Währungsunion, das Programm der PDS, die Einkommensentwicklung in Deutschland oder die Probleme der staatlichen Finanzen nicht so genau überblicken will oder kann, hat was von einer Kohl-Rede – und sei es nur das argumentationslose Gefühl irgendwie gearteten Vertrauens.

Da hat es der Herausforderer erkennbar schwerer. Wo Kohl nur noch wirkt, muß er sich anstrengen. Scharping muß seine Zuhörer/Wähler argumentierend überzeugen. Ohne Amtsbonus und Aura muß er in einem Medium agieren, das Kohl durch seine Auftritte fortwährend zerstört. Daß die BürgerInnen sich ohnehin längst davor zu schützen suchen, den unendlichen Wahlkampf allzu nah an sich herankommen zu lassen, erschwert es dem Herausforderer zudem, offene Ohren für die politischen Argumente zu finden. Kein Zweifel, die SPD redet und kämpft, hat sich mit den Negativprognosen nicht abgefunden. Aber mit welchen Mitteln eigentlich kann sie die Verunsicherung der letzten Monate beenden und einen Amtsinhaber gefährden, der schon dazu übergegangen ist, noch die eigene Selbstgewißheit zu ironisieren?

Mit „Ich schleppe mich jetzt auf meinen Platz, und da bleibe ich auch sitzen“ gelang Kohl nicht nur eine pointierte Zusammenfassung seiner gestrigen Rede im Bundestag; es war zugleich die konzentrierte Formulierung dessen, was uns auch in der kommenden Legislaturperiode bevorzustehen scheint.

Nicht, daß die Opposition das Blatt noch wenden könnte. Nur daß Kohl seine Inszenierung vollends überziehen könnte, darin liegt die Restchance für den Wechsel. Matthias Geis