Herausforderer gegen Amtsinhaber

In der Haushaltsdebatte präsentiert sich Kohl neuerlich als selbstzufriedener Wahlkämpfer / Scharping probt die scharfe Attacke und verspricht Phantasie und Verantwortung  ■ Aus Bonn Erwin Single

Wäre da nicht die direkte Auseinandersetzung zwischen dem Kanzler und seinem Herausforderer Rudolf Scharping, die Debatte um den Bundeshaushalt wäre in langweiliger Geschäftigkeit untergegangen. So aber, vor den Augen der medialen Öffentlichkeit, mußte der Bundestag diesmal als Kulisse für eine „Elefantenrunde“ und das einzige direkte Duell Rudolf Scharpings mit Helmut Kohl vor der Wahl herhalten, und die Akteure spielten ihre Rollen nicht schlecht.

Daß die möglichen Alternativen zu der „Machtmaschine“ Kohl nicht ganz in der schönen Welt von wohlfeilen Regierungserklärungen untergehen, dafür hat gestern schon allein SPD-Chef Scharping gesorgt. „Wir wollen“, verkündete der Kandidat, „Kreativität, Phantasie und Verantwortung zusammenführen.“ Der Kanzler habe sich zwar Verdienste bei der staatlichen Einigung erworben, das Land jedoch sozial gespalten, die Innovationskraft geschwächt und sich vor Zukunftsfragen gedrückt.

„Ihre selbstgefällige Inszenierung“, so Scharping an die Adresse Kohls, „kann die inhaltliche Leere nicht verdecken.“ Scharfe Töne, wie man sie vom Mainzer Ministerpräsidenten eigentlich nicht gewöhnt ist. Und auch nicht alles in der siebenstündigen, streckenweise leidenschaftlich geführten Redeschlacht war reine Wahlkampfrhetorik, prallten doch die gegensätzlichen Auffassungen deutlich aufeinander.

Konträrer als aus der Sicht von Helmut Kohl und Rudolf Scharping könnte die gesellschaftliche Lage in Deutschland kaum sein: Auf der einen Seite der SPD-Vorsitzende, der angesichts von Massenarbeitslosigkeit, grassierender Armut und Ausgrenzung eine wachsende soziale Kälte attestiert und dem Amtsinhaber eine „organisierte Mißachtung der Schwächeren“ vorwirft. Auf der anderen Seite der Kanzler, der das Land in bester Verfassung wähnt, den angekratzten Sozialstaat weiter als einen der leistungsfähigsten der Welt lobt, ansonsten auf den Aufschwung der Wirtschaft vertraut und der Opposition „Miesmacherei“ vorhält.

Kohl wies entschieden die Vorwürfe der Opposition zurück, das unter anderem von Fraktionschef Schäuble entwickelte Papier für ein „Kerneuropa“ richte sich gegen die Fortentwicklung der europäischen Union. „Wir wollen die politische Union in Europa – und das will Schäuble genauso.“ Alles andere sei, so der Kanzler, „blühender Unsinn“.

Selbstgefällig, wie man es von ihm kennt, zog Helmut Kohl Bilanz: Bei der Gestaltung der deutschen Einheit sei „Großartiges erreicht“ worden. Zwar habe man da einige Fehler begangen, das Entscheidende jedoch sei, daß es jetzt aufwärts gehe. Die deutsche Wirtschaft verzeichne wieder ein kräftiges Wachstum, die D-Mark sei stabil und die Inflation niedrig. Außerdem gebe es eine Wende bei den Arbeitslosenzahlen. Alles bestens, machen auch die übrigen Redner der Koalition geltend, allen voran die Fraktionschefs Wolfgang Schäuble (CDU) und Hermann Otto Solms (FDP).

Dennoch tun sich die Sozialdemokraten schwer, den plakativen Erfolgsmeldungen der Regierung glaubwürdige und kompetente Alternativen entgegenzusetzen. Aber wer besitzt die schon? Die Bilanz der Bonner Koalition ist ja keineswegs so makellos, wie Kohls Image vermuten läßt, und bei immer noch vier Millionen Arbeitslosen und absehbaren Finanzkrisen nicht nur in der Sozialversicherung sind Lösungskonzepte mehr denn je gefragt. An der von Scharping angerissenen Lawine von Problemen wird jedoch auch eine neue Kohl-Regierung nicht vorbeikommen, im Prinzip liegt die alte schon darunter begraben, wenn man die Lasten aus Arbeitslosigkeit, deutscher Einheit, Staatsverschuldung und Umweltbelastung zusammenrechnet. Dem Kanzler selbst warf Scharping nicht zu Unrecht vor, die Wähler über seine wahren Absichten nach der Wahl täuschen zu wollen, in dem er sich weigere, die Grundlinien seiner künftigen Politik offenzulegen.

Scharping, ohne das schauspielerische Talent seines Gegenübers, ahnt wohl, was über ihn gedacht wird. Seine Botschaft soll auch nicht seine Kritiker überzeugen: Sie ist an die Menschen gerichtet, deren Sorgen und Nöte er sich annehmen und deren Sprache er sprechen will. Auch das ist mehr als Wahlkampfrhetorik, da will einer das bleiben, was er ist – eine ehrliche Haut. Die Rolle des Betriebsrats der Gesellschaft, die ihm anhängt, ist für ihn keine Abwertung, das hat er gestern deutlich gemacht.

Noch ist die Wahl im Herbst nicht gelaufen. Daß Kohl ein Wahlkämpfer par excellence ist, mußte auch die Opposition gestern wieder neidlos anerkennen. Er weiß, wo in dieser Republik das Schwergewicht sitzt, nämlich hier, auf dem Sessel des Kanzlers gleich neben dem Rednerpult. „Wir haben gute Chancen“, schloß Kohl, „und deshalb will ich mich wieder auf meinen Platz schleppen und dort sitzenbleiben.“