Ein letztes Mal im Bann der Alliierten

■ Bei der Verabschiedung der Westalliierten wimmelte die ganze Stadt von Polizisten / Am Platz der Luftbrücke schwelgten die Zaungäste in Kindheitserinnerungen / Bezirk Mitte wurde zur Sicherheitszone

Der Zeitplan für das gestrige Feierprogramm zur Verabschiedung der Westalliierten war eng gesteckt. Lediglich der 77jährige französische Präsident François Mitterrand hatte nach dem Mittagessen im Schloß Charlottenburg in der eigens für ihn angemieteten Suite im Hotel Maritim Gelegenheit, ein Nickerchen zu halten und sich die Hände zu waschen.

Auch an der Kreuzung Yorckstraße/Mehringdamm, die die Repräsentanten der ehemaligen Besatzungsmächte wenige Minuten später im VIP-Bus passieren sollten, wurde kräftig gewaschen. Unter den kritischen Blicken von zahlreichen Polizisten putzten drei polnische Jugendliche an der roten Ampel die Autoscheiben. Von der Feier am Hungerkrallen-Denkmal einen halben Kilometer weiter am Platz der Luftbrücke wußten sie nichts. „Wir haben schon befürchtet, die Polizei will was von uns.“

Die wachsamen Augen der auf 5.000 Mann verstärkten Gesetzeshüter schienen gestern überall zu sein. Der Platz der Luftbrücke wimmelte nur so von grün und weiß, aber auch in höheren Sphären trieben sie sich herum. In bester Autonomenmanier martialisch mit schwarzen Haßkappen verkleidet, lehnten die Scharfschützen auf den Dächern der umliegenden Häuser lässig an den Schornsteinen und observierten mit Ferngläsern die Szenerie. Ihre mit Zielfernrohren ausgestatteten Gewehre hatten sie so drapiert, daß sie von unten gut als solche erkennbar waren. Anwohner in den oberen Stockwerken, die ihre Nase zu weit aus dem Fenster steckten, bekamen von oben verbal eins aufs Dach: Sie mußten die Luken schließen.

Mit „tsching-ta-rata-peng“ marschierte unten eine Kapelle der Bundeswehr auf, gefolgt von einer kleinen Truppe französischer, englischer und amerikanischer Soldaten im Stechschritt. Zwei ältere Damen hinter der Absperrung bekamen feuchte Augen. Trauer und Wehmut, das war die vorherrschende Stimmung unter den meist schon etwas betagteren Zaungästen. Wo immer man zuhörte, die Gespräche waren vom Krieg und von der Blockade bestimmt. Die Alten schwelgten in Kindheitserinnerungen an die Rosinenbomber, die über Berlin mit den Flügeln wackelten und dann an kleinen Fallschirmen Schokolade für die Hungernden abwarfen.

Nur die Schüler einer zu Besuch in Berlin weilenden 10. Klasse aus Westfalen schlugen andere Töne an. „Unser Lehrer hat uns hierher geschleppt“, moserte ein 15jähriger mit einem Che-Guevara-Aufkleber am Ärmel und rotem Stern an der Baskenmütze: „Das abgehobene Spektakel hier widert einen irgendwie an“.

Die Innenstadt war weiträumig abgesperrt

Während die Kranzniederlegung am Luftbrückendenkmal in vollem Gange war, wurde der Bezirk Mitte weiträumig abgesperrt. Je mehr man sich dem Brandenburger Tor näherte, um so präsenter waren Polizei, Bundesgrenzschutz, Freiwillige Polizeireserve und Sicherheitsfirmen. Allerorten irrten Touristen herum, die ihr Besichtigungsprogramm dem Abschiedszeremoniell der Alliierten unterordnen mußten.

Zwei Rentner, für die der Zapfenstreich ein „weltbedeutendes Ereignis“ war, schauten zu, wie letzte Kabel auf der Bühne verlegt und Sicherheitskontrolltüren aufgebaut wurden. Ein Ehepaar aus Marburg, das den Großen Zapfenstreich der Bundeswehr live erleben wollte, hatte es sich bereits in den frühen Nachmittagsstunden auf einer Bank Unter den Linden bequem gemacht. „Ich finde die vielen Absperrungen traurig“, schimpfte der Mann, „ich wollte dem Fackelzug näher sein.“ Drei junge Spanier dagegen, die kurz vor der Sperrung der Straße des 17. Juni das Brandenburger Tor fotografierten, ließ der Zapfenstreich am Abend, an dem 3.000 Ehrengäste und 17.000 Berliner teilnehmen sollten, ziemlich kalt. „Wir gehen lieber ein Bier trinken.“

Ganz im Sinne des preußischen Ordnungssinnes führten drei alphabetisch geordnete Eingänge zur schwarz behangenen Tribüne auf dem Pariser Platz. Ein 70jähriger Mann, der erzählte, daß er 1943 das Begräbniszeremoniell für Victor Lutze, Stabschef der SA, von der selben Stelle aus miterlebt hatte, ließ vor seinem inneren Auge noch einmal „die gesamte Nazi-Prominenz“ aufmarschieren. „Seit der Zeit habe ich eine stille Liebe zu Berlin“, sagte er, „und für Marschmusik.“ Der weißhaarige Mann war froh, daß „unser Land jetzt wieder souverän ist“.

Große Verunsicherung herrschte bei den Händlern am Parkplatz neben dem Reichstag. Einer von ihnen sah gar nicht ein, seinen Stand abzudecken, solange er keine eindeutige Anweisung bekam. Keiner der vielen Beamten konnte ihm sagen, ob und wann er seinen Stand schließen müsse. Ein Polizist aus Thüringen, der nur für Eskorten zuständig war, kam nicht umhin, ihm zuzustimmen, daß die rechte Hand nicht wisse, was die linke tue. Als gegen 16 Uhr die gesamte Innenstadt nur noch aus Absperrungen bestand, mußten auch die Händler ihre Stände schließen – „absolute Schutzzone“. „Die Bombe, die explodieren soll, ist doch längst vergraben“, grinste der Händler. Plutonia Plarre/Barbara Bollwahn

Siehe auch Seite 4