American dream eines deutschen Radfahrers

Auf dem Mountainbike durch die Straßenschluchten von Manhattan  ■ Von Hans-Joachim Vormann

Das hat man nun davon, wenn man sich einen amerikanischen Traum besonderer Art erfüllen möchte: mit dem Fahrrad über die Brooklyn Bridge in New York. Der Assistent Manager des Fahrradladens an der 98sten Straße schüttelte ungläubig lächelnd den Kopf und schaute auf das fast neue Mountainbike, das ich mir für zehn Tage ausleihen wollte. Er selber würde nie auf die absurde Idee kommen, durch die New Yorker Straßenschluchten zu radeln und sich zur Zielschiebe der Auto-Maniacs zu machen. Er packt lieber sein superschnelles 35-Gänge- Bike ins Auto und fährt weit raus ins Ländliche. Dort erst wagt sich Angel auf sein teures Bike, um aus Fitneßgründen Meilen zu machen. Wenn ein Verrückter aus Deutschland denn unbedingt hier in der stinkenden Hölle New York Fahrrad fahren wolle, bitte sehr. Er schaute ein weiteres Mal besorgt auf das Mountainbike. Auf die Taxifahrer sollte ich besonders aufpassen, denn die Fahrer der Yellow Cabs ignorieren so etwas Exotisches wie Radfahrer. Ich prüfte noch einmal die Bremsen und schwang mich schicksalsergeben in den New Yorker Verkehr.

Vor dem langen Turn hinunter an die Südspitze von Manhattan ist es jedoch ratsam, sich erst mal zu akklimatisieren, das Verhalten der feindlichen Autos zu studieren, um in ihrer Metropole als Radfahrer nicht unter die Räder zu kommen oder gar von einer sich unvermittelt öffnenden Autotür den verrückten Traum platzen zu lassen.

Das Erscheinen eines Radfahrers auf den vier- und fünfspurigen Einbahnstraßen-Avenues scheint bei den Autofahrern einer Kriegserklärung gleichzukommen. Es wird geschnitten, gehupt, Gas gegeben. Der Radfahrer ist auf New Yorks Straßen ein Nichts, ein Fremdkörper im organischen Verkehrssystem, ein Unikum, das in einen Sportpark gehört, oder besser in einen Zoo. Also versuchen sie, ihn dahin zu scheuchen. Obwohl in der schwächeren Position, begann die Sache Spaß zu machen. Eine Herausforderung typisch amerikanischer Art bahnte sich an. Nach fünf unfallfrei gefahrenen Blöcken gönne ich mir erst einmal eine Pause. Ein Coffee-Shop an der Ecke Lexington/85ste lockt mit Kaffee und Bagels.

Der Mann hinter der Glasvitrine schiebt gelangweilt den Pappbecher Kaffee nebst dem heißen Gebäck rüber, verlangt einen Dollar – special offer, nur diese Woche – und sagt, ich sei der erste Kunde mit Fahrrad in seinem „Deli“. Ich bugsiere das wertvolle Bike an den Tischen vorbei zu einem Fensterplatz. Die Rockmusik dröhnt laut genug, daß ich die Bemerkungen der kauenden Kundschaft nicht mitbekomme. Ein Greenhorn in New York. Hat Angst um das bißchen Fahrrad. Der Bagel schmeckt scheußlich, und der Kaffee ist dünn. Aber kann man für einen Dollar mehr erwarten?

Am nächsten Tag wurde es ernst. Die Lexington Avenue führt geradewegs hinunter ins südliche Manhattan. Eine Kette von Ampeln wechselt in Wellen die Farben. Sie scheint unendlich lang und unwirklich. Wie in John Dos Passos' Roman „Manhattan Transfer“ quält sich die Kolonne der Autos von Block zu Block, fast einander schiebend, von den unerbittlichen Ampeln reguliert. Die aufleuchtenden Bremslichter unterstreichen den Rhythmus des Verkehrs. Dos Passos' Helden saßen allerdings nicht im Sattel eines Bikes, sondern geschützt im Taxi und hatten es eilig, irgendwo hinzukommen. Sie hatten sich der Stadt angepaßt, an die Hektik, die Schnelligkeit, den täglichen Kampf jeder gegen jeden. Dabei machen sie auch heute noch, um diese verdammt wertvolle Zeit nicht zu verlieren, immer zwei, drei Sachen auf einmal. Sie rasieren sich auf dem Weg zur Arbeit in Fahrstühlen oder ziehen erst im Taxi Strümpfe und Schuhe richtig an, dabei reden sie mit dem Fahrer über Eheprobleme und denken an die abendliche Verabredung mit dem Psychiater.

Block für Block fuhr ich am Stau vorbei und kam langsam meinem Ziel näher. Drei-, viermal mußte ich unfreiwillig kurz rechts abbiegen und bremsen. Wieder hatten sie mich ignoriert und waren einfach vor mir abgebogen. Ich nahm es nicht persönlich. Vor dem Nobelkaufhaus Bloomingdale wurde es unübersichtlich. Eine wahre Invasion der gelben Taxi- Gefahr, auf der Suche nach Kunden. Schlaglöcher und Querrinnen auf der Fahrbahn erschwerten das Durchkommen. Schlagartig erinnerten sie an die chronisch leeren Taschen der New Yorker Verkehrs- und Baubehörden. Das Mountainbike bewährte sich großartig. Wahrscheinlich ist es hier erfunden worden. Es umkurvte mit mir alle Verkehrsklippen. Plötzlich tauchte vor mir ein Radfahrer auf. Noch ein verrückter Deutscher? Weit gefehlt! Sein hauteng-neonfarbenes, glänzendes Outfit ließ keinen Zweifel, daß er zu jenen 500 Männern und Frauen gehört, die ihr Geld als „Messenger“, als Fahrradbote verdienen. Ich versuchte, in der Spur zu bleiben, die er durch den Verkehr zog. Er wechselte auf die linke Seite der Einbahnstraße. Dort ging es schneller voran. Je weiter wir nach East Village vordrangen, desto mehr Messengers schlängelten sich durch den scheinbar undurchdringlichen Wust von Autos. Am Gramercy Park, einer kleinen grünen Insel, umgeben von gepflegten Häusern im englischen Stil, wurde kurz ausgeruht und ein bißchen Sauerstoff für den Rest der Expedition getankt. Keine zwei Meilen von der Parkbank entfernt führt eine Rampe nur für Fußgänger und Radfahrer langsam, aber stetig hoch zur ältesten Brücke New Yorks, hoch über den Autos, in frischer Seeluft.

So stand es im Reiseführer, und so war es dann auch. Zwischen dem „Criminal Court“ und dem „U.S. Court House“ beginnt in der Mitte der Straße vor dem Municipal Building ein Weg zur Brooklyn Bridge, dem Objekt meiner irrationalen Begierde. Touristen aus Asien mußte ich leider ebenso beiseite klingeln wie eine joggende Basketballmannschaft. Nur noch wenige Yards bergauf und es war geschafft. Ich hielt vor dem Tor des gewaltigen Brückenpfeilers an. Dieser sieht so aus, als sei er aus einer gotischen Kathedrale herausgeschnitten. Zwei ovale, spitz zulaufende Öffnungen verleihen den massiven Pfeilern der ersten großen Hängebrücke der Welt eine sakrale Leichtigkeit. John Roebling hat das nämlich so gewollt. Der Brückenbaumeister aus Thüringen, voller Frust über deutsche Bürokratie und Engstirnigkeit, entschloß sich 1830, über den großen Teich zu schippern. Er hatte bei seinem Studium in Berlin auch Hegels Vorlesungen gehört und die Gesellschaftsanalyse des Denkers schließlich wörtlich genommen: die Zukunft liegt jenseits des Atlantiks. Hier in New York konnte er seine große architektonische Vision verwirklichen.

Der weitsichtige Roebling scheint schon damals an uns Radfahrer gedacht zu haben. Den Boardwalk für den autofreien Verkehr über den dreispurigen Fahrbahnen gab es nämlich von Anfang an. Heute wird er allerdings zum größten Teil von Joggern, Bikern und Touristen benutzt, die vom Scheitelpunkt der Brücke einen unschlagbaren Rundblick genießen. Alles ist tatsächlich da, wo es sein soll. Das Megasymbol für Freiheit leuchtet etwas undeutlich in hellem Grün aus der fernen Hudson Bay herüber. „Miss Liberty“, einst vom französischen Volk fürs freiheitsliebende amerikanische gestiftet, hat auch immer noch die Fackel in der Hand und keine Cola-Flasche oder Nike- Turnschuh. Der amerikanischste aller Hintergründe für ein Foto. Sorry, can you take a picture? Der japanische Tourist war so freundlich. Mein Bike und ich sind klar zu erkennen.

Unten am East River umrahmt ein breiter Highway auf Stelzen, der sich harmlos South Street nennt, die Wolkenkratzer des südlichen Manhattan. Dazwischen ging die Sonne langsam im Smog unter. Die über 400 Meter hohen Türme des World Trade Center warfen lange Schatten auf die Wall Street mit dem Financial District. Japanische Bankgebäude reckten sich siegessicher in den Himmel, reflektierten die letzten Sonnenstrahlen und degradierten das alte ehrwürdige Hochhaus von Woolworth, lange Zeit höchstes und sinnfälligstes Monument des Kapitalismus amerikanischer Provenienz, zum Statistendasein.

Ein bißchen weiter rechts taucht die Rampe der hellblauen Manhattan Bridge mitten in sozialen Wohnungsbau ein. Von hier oben sehen die rötlichen Backsteingebäude gar nicht so übel aus, doch die Häufung der zehn- bis fünfzehngeschossigen Klötze am südöstlichen Rand Manhattans macht die Gegend berüchtigt. Die ewig steigenden Mieten zwangen immer mehr Menschen in die Appartements, die hoffnungslos überbewohnt sind. Wer das Pech hat, genau an dem Brückenhighway zu wohnen, der hat eine nicht alltägliche Aussicht. Vor den Fenstern fließt der unablässig laute und dreckige Strom von Autos, die über die Auffahrt zur 1909 gebauten Manhattan Bridge nach Brooklyn fahren. Das „Hindernis der Natur“, der breite East River, wurde mit einer weiteren Hängebrücke überwunden. Die Brooklyn Bridge war nämlich schon wenige Jahre nach der Einweihung dem rasant gestiegenen Verkehr nicht mehr gewachsen. Und da die U-Bahn auch nach Brooklyn fahren sollte, hat sie unterhalb der Fahrbahn eine eigene Etage bekommen. Dort rumpelt die heruntergekommene Subway auf alten Gleisen und biegt quietschend ein in das Häusermeer von Megapolis.

Würde ich es nicht mit eigenen Augen sehen, dann hätte ich es für einen kitschigen Hollywood-Trick gehalten: ein glutroter Himmel, davor die Silhouette der schlanken Kathedralen des Kapitals, aus deren Fenstern die Lichter wie kleine Kerzen strahlen. Möglich machte dieses Erlebnis der Herr Roebling aus Thüringen, mit seinem Herz für Fußgänger und Radfahrer. Mit diesem Sinnesrausch waren die zehn Kilometer zurück ein Klacks. Und mit den 21 Gängen meines Mountainbikes würde ich es den Taxifahrern schon zeigen.