Über Kunst die Welt begreifen

■ 70jähriges Jubiläum der anthroposophischen Heilpädagogik / Die Schule für geistig Behinderte in Berlin-Zehlendorf steht nach vierzig Jahren vor dem Aus

Entschlossen greift Markus nach dem gelben Wachsmalstift. Mit langsamen Strichen malt er der Figur auf dem Papier einen Dreizack in die Hand. „Kuck mal“, ruft er und präsentiert der Lehrerin stolz sein Bild, das Poseidon zeigt, den griechischen Gott. Geschichtsunterricht in einer heilpädagogischen Schule für geistig Behinderte. Im Epochenunterricht lernen die elf Schüler der siebten Klasse die Welt der alten Griechen kennen.

Das heilpädagogische Therapeutikum in Berlin-Zehlendorf ist eine von mehr als 35 anthroposophischen Sonderschulen für geistig Behinderte in Deutschland. Die antroposophische Heilpädagogik feiert in diesem Jahr mit zahlreichen Veransstaltungen ihr 70jähriges Jubiläum. 1924 hatte Rudolf Steiner die Grundlagen einer Heilpädagogik auf Basis der antroposophischen Geisteswissenschaft entwickelt.

An heilpädogischen Schulen lernen die geistig Behinderten nicht nur die kleinen Hindernisse des Lebens, wie das Schnürsenkelknoten, diskret zu überwinden. Hier haben sie auch Fachunterricht von Mathe über Physik bis zu Geschichte. „Die Kinder sollen lesen, schreiben und rechnen lernen, um die Gesetzmäßigkeiten des Lebens zu begreifen“, sagt Reinhard Wegener, Lehrer am Therapeutikum. „Die Kulturtechniken verstehen wir als Bildungsmaßnahmen für die seelischen Erkrankungen.“ Die Grundtatsachen des menschlichen Lebens könne jeder erfassen lernen.

Der Unterricht mit geistig Behinderten läuft nach einem modifierten Waldorflehrplan. „Doch im einzelnen“, sagt Melitta Kusenberg, die Lehrerin der sieben, „kann der Lehrer selbst entscheiden, was seiner Klasse am ehesten entspricht.“ Melitta Kusenberg macht mit ihren Schülern zwischendurch Bewegungsübungen. Sie sollen die Konzentrationsfähigkeit der Kinder erhöhen und das Denken anregen. Den Sachunterricht beschränkt sie auf sichtbare Phänomene, die in einfachen Versuchen nachzuvollziehen sind. Mit Hilfe von zwei durch eine 14 Meter lange Schnur verbundene Dosen, durch die sich die Schüler unterhalten konnten, haben sie gelernt, wie das Telephon funktioniert.

Auch künstlerische und handwerkliche Arbeit vor allem in den Werkstätten der Schule gehört zum Unterricht. Gerade für geistig Behinderte ist das ein wichtiges Ausdrucksmittel. „Das Malen und Musizieren beispielsweise“, sagt Thomas Kramberg vom Therapeutikum, „soll das Selbstvertrauen stärken.“ Die Künste seien ein wesentlicher Helfer, so sein Kollege Reinhard Wegener, die Welt zu begreifen.

Das heilpädagogische Therapeutikum in Zehlendorf feiert jetzt seinen vierzigsten Geburtstag. Wie lange es noch weiter bestehen wird, ist unklar. Denn seitdem der Senat die Bezuschussung von Sachmitteln für private Sonderschulen gestrichen hat, steht die Existenz der Schule auf der Kippe. „Viele Eltern können sich das hohe Schulgeld“, meint Kramberg, „dann wahrscheinlich nicht mehr leisten.“ Anja Dilk