Autonome Schmarotzer als Heilmittel

Die anthroposophische Misteltherapie findet allmählich wissenschaftliche Anerkennung durch die Schulmedizin / Neue Studien zur Anwendung der Mistel in der Aids-Behandlung  ■ Von Matthias Fink

Zur Weihnachtszeit schmückt das grüne Gewächs vielerorts das heimatliche Wohnzimmer – die Mistel. Daß sie auch ein wirksames Heilmittel sein kann, wissen nur wenige. Dabei wurde die Pflanze mit den weißen Beeren schon im Mittelalter zu Heilzwecken angewandt, in der Schulmedizin fristet sie jedoch ein Dasein als Mauerblümchen. Im „Pschyrembel“, einem Standard-Nachschlagewerk der Medizin, findet sich unter dem Stichwort „Viscum album“ lediglich die Übersetzung: Mistel. Auf ihre medizinische Verwendbarkeit als Heilmittel gibt es dort keinen Hinweis.

Systematische Erkenntnisse über die Heilwirkung der Pflanze wurden in diesem Jahrhundert vor allem von Rudolf Steiner gewonnen, dem Begründer der Anthroposophie. In anthroposophischen Krankenhäusern wird die Mistel schon seit den 30er Jahren eingesetzt. In der anthroposophischen Krebsbehandlung hat sich die Misteltherapie bewährt. Die schulmedizinisch ausgerichtete Fachwelt blieb lange skeptisch. Doch seit den achtziger Jahren ist man offener geworden. Nicht nur beim Einsatz der Mistel in der Krebstherapie. Neuerdings wird sogar untersucht, ob die Wirkstoffe der Pflanze auch bei der Behandlung von Aids wirksam eingesetzt werden können.

Die vielfältige Anwendbarkeit der Extrakte ergibt sich nach der anthroposophischen Lehre aus dem „Bildeprinzip“ der Mistel. Die Pflanze gilt in der Botanik als „autonomer Schmarotzer“. Obwohl sie nur auf Wirtspflanzen, beispielsweise Apfel- oder Kirschbäumen gedeiht, kann sie eigenständig Photosynthese durchführen. Anders als die meisten Blütenpflanzen ist sie keiner Zeitstruktur untergeordnet, sondern blüht in jeder Jahreszeit. Vom Licht ist sie unabhängig und kann auch nach unten oder seitwärts wachsen.

Ein so unabhängig und unkontrolliert gedeihendes Gewächs vergleichen die AnthroposophInnen mit Tumoren, die sich im menschlichen Körper ähnlich hartnäckig ausbreiten. Nach der Lehre Rudolf Steiners ist der Einsatz der Mistel als Heilmittel deshalb besonders erfolgversprechend. „Ihre Wirkstoffe sind extrem immunstimulierend“, betont Harald Matthes, der am Klinikum Benjamin Franklin in Berlin-Steglitz Krebstherapien auf anthroposophischer Grundlage betreut. Vergleichende Studien zeigten, so Matthes, daß die Mistel bei der Eindämmung von Krebswachstum der Chemotherapie überlegen sei.

In der anthroposophischen Medizin spielt die Misteltherapie folglich eine große Rolle bei der Behandlung von Krebskranken. „Nicht als Alternative, sondern als Erweiterung“ zu konventionellen Behandlungsmethoden werde sie eingesetzt, erläutert Matthias Girke, anthroposophischer Arzt aus Berlin–Zehlendorf. In begründeten Fällen entscheiden sich auch AnthroposophInnen für Chemotherapie, Bestrahlung oder Operationen. Vor allem spielen psychotherapeutische Hilfen eine unverzichtbare Rolle. Die Nachfrage ist groß, berichtet Girke: „Anthroposophische Ärzte haben allgemein einen großen Zulauf von Krebspatienten“. In der Wissenschaft konnte sich die als „ideologisch“ eingestufte Misteltherapie jahrelang nur schwer legitimieren.

Eine Ursache sieht Matthes in dem Verzicht der AnthroposophInnen auf Vergleiche zwischen behandelten und unbehandelten Personen. Studien, bei denen nur eine Vergleichsgruppe mit dem erfolgversprechenden Medikament behandelt wird, wurden aus ethischen Gründen nur an Tieren durchgeführt.

Im Moment laufen in Deutschland sieben Studien an nicht-anthroposophischen Kliniken, in denen die Wirksamkeit der Misteltherapie erforscht wird. Auch am Klinikum Steglitz soll im nächsten Jahr ein entsprechendes Projekt starten, in dem Schulmedizin und Misteltherapie vergleichend betrachtet werden.

Die Chancen für eine weitere Förderung stehen nicht schlecht. Peter Matthiessen von der Uni Witten/Herdecke, der Förderanträge an das Bundesforschungsministerium weiterleitet, schätzt, daß die Misteltherapie gegenüber anderen alternativen Ansätzen schon „besonders etabliert“ ist. Im Rahmen der „unkonventionellen Methoden der Krebsbekämpfung“, sagt Matthiessen, „ist sie eines der erfolgversprechendsten Verfahren“. Durch die Studien erwartet man neuen Aufschluß über die kumulativen Wirkungen der Mistel bei der Therapie. Die klinische Beobachtung bestätige den Eindruck, daß „der Extrakt der ganzen Pflanze in einer niedrigen Dosierung einen breiteren und stärkeren Effekt hat als allein die immunstimulierenden und zytotoxischen Effekte der Mistel“, stellte Robert Gorter, Professor in Berlin und San Francisco, in einer Studie fest. Die anthroposophische Medizin möchte daher noch weitere Stoffe in den Mistelextrakten auf ihre therapeutische Wirkung untersuchen.

Mit der ganzheitlichen Betrachtung des Menschen gelangt der anthroposophische Ansatz auch bei der Aids-Behandlung zu der Perspektive, daß die Erkrankung nicht als bloße körperliche Beeinträchtigung angesehen werden dürfe. Wie bei Krebserkrankungen versucht die Anthroposophie auch bei HIV-Infektionen, die Abwehrkräfte auf seelisch-geistigem Gebiet zu stärken. So soll die Ausbreitung des HIV-Virus im Organismus eingedämmt werden. Die Misteltherapie setzt daher auf eine Stimulierung des Immunsystems, nicht auf ein bloßes Einwirken gegen die Vermehrung des HIV- Virus.

Für den Einsatz der Misteltherapie in der Aids-Behandlung wurde in den USA die Zulassung beantragt. „Die Zulassungsbedingungen sind besonders streng“, weiß Harald Matthes und erwartet, daß mit der dortigen Zulassung dann auch bald grünes Licht durch das deutsche Institut für Arzneimittel (BIAM) gegeben wird.

Die Anerkennung dieses ganzheitlichen Ansatzes ist nach Einschätzung von Peter Matthiessen in den letzten Jahren gewachsen. Als Mitglied eines neutralen Gutachtergremiums hat er festgestellt, daß unkonventionell arbeitende WissenschaftlerInnen oft schon „bei der Antragstellung unerfahren“ waren und so bei der Bundesförderung schlechte Karten hatten. Zwischen Schul- und unkonventioneller Medizin sei jedoch eine „Auflockerung“ festzustellen. „Vor allem bei konkreten Joint- ventures“, sagt Matthiessen, „hat die gegenseitige Akzeptanz zugenommen.“

Während in Westdeutschland schon an verschiedenen anthroposophischen Krankenhäusern rund 100 Aids-PatientInnen nach der Misteltherapie behandelt werden, ist in Berlin eine solche Versorgung bisher nur in Anbindung an einzelne Arztpraxen möglich. Die Einrichtung eines anthroposophischen Krankenhauses könnte die Lücke schließen.