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Sich im anderen erkennen

Wie gingen und gehen Japan und Deutschland mit ihrer historischen Schuld um? Ian Burumas großartiges Buch  ■ Von Ralph Giordano

Ian Bumura hat ein Buch geschrieben, dessen Thema eigentlich das Ei des Kolumbus ist: sich auseinanderzusetzen mit der japanischen und der deutschen „Erbschaft der Schuld“, also mit der des Dritten Reichs und des militaristisch-imperialistischen Nippon. Sie und ihre Hinterlassenschaft zu vergleichen, gegeneinander zu setzen und zu analysieren. Das tut er so scharfsichtig, so klar und fundiert, daß es einem schier die Sprache verschlagen will.

Schlüsselsatz des Werkes ist ein Zitat: „Ich habe nur die Wahrheit erzählt, und sie wollten mich daran hindern. Ich will, verdammt nochmal, die Wahrheit erzählen dürfen!“ Heute ist Shiro Azuma ein alter Mann. 1937 gehörte er zu den Eroberern Nankings, im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs das Synonym für Verbrechen von Uniformierten an Zivilisten schlechthin: Sechs Wochen lang war die Bevölkerung der südchinesischen Stadt der japanischen Soldateska ausgeliefert gewesen. Als Azuma nach Jahrzehnten endlich seinem also nicht ganz verlorengegangenen Gewissen öffentlich Luft macht, bekommt er, wie alle anderen vor und nach ihm, zu spüren, was es heißt, Japans nahezu kollektive Verdrängung seiner kriegerischen Vergangenheit unterlaufen zu wollen.

Bei aller Verschiedenheit der Kultur und des geschichtlichen Verlaufs – im Verhalten gegenüber nationaler Schuld gibt es bei beiden täterverstrickten Mehrheiten gravierende Übereinstimmungen – vor und nach der Zerschlagung des jeweiligen Gewaltsystems. Ich werde mich auf zwei Punkte, mit Schwergewicht auf der japanischen Seite, konzentrieren: die Verdrängungspraxis und das Codewort „Hiroshima“.

Natürlich existieren in der Chronik beider Völker große Erlebnisunterschiede, auch elementare. Uns blieb die Bombe erspart, obwohl sie ursprünglich über Deutschland gezündet werden sollte, und Japan wurde nicht geteilt. Es hatte nur eine Besatzungsmacht, die amerikanische. Die tat etwas, was auf Deutschland allerdings nicht übertragbar gewesen wäre: Sie stürzte das Tenno-System, ließ aber seine Symbolfigur, Kaiser Hirohito, unangetastet. (Man stelle sich einen überlebenden Hitler als Staatsoberhaupt der Bundesrepublik Deutschland vor, um zu begreifen, welch eine Kluft zwischen „Nanking“ und Auschwitz besteht).

An der konservativen Restauration und ihrer Vorherrschaft hier wie dort änderte diese Ungleichheit jedoch nicht das geringste: „In Japan wird eine große Zahl unserer früheren Freunde in Folge ihrer Tüchtigkeit wieder führende Stellungen einnehmen!“ frohlockte ein westdeutscher Diplomat nach seiner Rückkehr aus Tokio schon 1951. Und so offenbart denn Bumuras Buch mir, der nur einmal, 1972, zwölf Stunden lang zwischen zwei Flügen im Nachkriegsjapan weilte, all die hiesig allzu vertrauten Verhaltensmuster. Etwa das starke Bedürfnis, die Sieger auf die verschiedenste Weise zu diffamieren, etwa, sie zu Menschen zu stilisieren, „die doch besser sein wollten als wir.“ Um sich dann absichtsvoll enttäuscht von ihnen abzukehren, „da sie tatsächlich nicht besser sind.“ Jedenfalls nicht nach den Kriterien derer, die mit derlei Finten versuchten, ihr angeschlagenes Selbstwertgefühl völlig fruchtlos aufzubessern.

Auch war, noch lange Zeit nach seiner Überwindung, die Sichtweise des Aggressors verbindlich für die Mehrheit beider Völker. Umso erfrischender dann, nach dem sogenannten „Tokioter Tribunal“ von 1948, einer Art fernöstlichem Nürnberg, das 28 militärischen japanischen Befehlshabern den Prozeß machte, diese einheimische Zeitungsstimme: „Das japanische Volk sollte darüber nachdenken, warum eine solche Diskrepanz herrschte zwischen dem, was es selbst für die Wahrheit hielt, und dem, was der Rest der Welt fast schon als allgemein bekannt voraussetzte. Dort liegt die Wurzel der Tragödie, die Japan sich selbst eingehandelt hat.“

Was den zweiten Schwerpunkt meiner Betrachtungen betrifft – Hiroshima, die Bombe –, so verdanke ich Ian Bumura eine Aufklärung, für die ich ihm nicht dankbar genug sein kann: das Ende eines Mythos – des Mythos, daß alle Japaner aus der Tragödie gelernt hätten. „Erbschaft der Schuld“ lehrt, daß davon leider keine Rede sein kann, jedenfalls nicht im kollektiven Sinn. Der Mechanismus der japanischen Verdrängung gleicht dem der deutschen aufs Haar: Ursache und Wirkung werden voneinander getrennt. Erst durch die totale Ausklammerung der expansionistischen Vorgeschichte des 6. August 1945, also der historischen Zusammenhänge, die zum Zweiten Weltkrieg auch in Fernost und zum Abwurf der Bombe geführt haben, erst dadurch gelingt es, Japan zum reinen Opfer eines überlegenen Gegners zu stilisieren – und Hiroshima zum Synonym dafür.

Mit der gleichen Haltung beschwören deutsche Verdränger immer wieder das Dresden der Phosphornacht vom 14. auf den 15. Februar 1945, eine entseelte Totenarithmetik, die keinem anderen Zwecke dient, als Gegenrechnungen der eigenen Unbußfertigkeit aufzustellen.

Ian Buruma, niederländischer Journalist, lehrt uns, daß das „Friedensmuseum“ der Stadt, Wallfahrtsort für Millionen Menschen aus aller Welt, bis heute der sichtbare Ausdruck dafür geblieben ist. Als 1987 eine Gruppe von Gymnasiasten aus Osaka ein Gesuch an die Stadtverwaltung von Hiroshima richtete, in dem Museum auch die Geschichte der japanischen Aggression zu dokumentieren, wurde es schroff abgelehnt. Obwohl die jungen Japaner die Bombe als Verbrechen bezeichneten, jedoch aber eben auch das, was zu ihr geführt hatte. Kein Wunder, daß in einem solchen „Friedensmuseum“ Nanking keinen Platz hat. Ian Buruma stellt diesen seltsamen „Geist von Hiroshima“ auf die Füße der historischen Wahrheit, wenn er schreibt: „Die Bürger von Hiroshima waren tatsächlich Opfer, aber vor allem Opfer ihrer eigenen militärischen Machthaber.“

Erst nach solcher Erkenntnis, denke ich, kann man sich an die Frage wagen, ob der Abwurf der Bombe zur Erstürmung der „Festung Japan“ nötig war, um Tote zu ersparen, oder ob dieses Ziel auch durch konventionelle Waffen hätte erreicht werden können. Was die deutsche Forderung nach Humanisierung des Luftkrieges betrifft, so wäre festzustellen, daß sie nicht erst mit Dresden 1945, sondern schon mit Warschau 1939 hätte gestellt werden müssen.

Ganz generell überträgt Ian Bumura meine Erfahrungen mit der zentralen These des einheimischen Revisionismus und Revanchismus – „Deutschland – das ewige Opfer der Geschichte“ – auch auf Japan, wenn er kritische Stimmen dort folgendermaßen zitiert: „Die Vergangenheit nur aus der Perspektive von Opfern zu sehen, bedeutet, Haß zu schüren. Werden wir uns daran erinnern, daß wir getreten wurden, oder daran, daß wir als erste zustießen? Wenn wir uns dieser Frage nicht stellen, wird es keinen Frieden geben.“

„Erbschaft der Schuld“ läßt keinen Zweifel daran, daß auch das Japan der neunziger Jahre in diesem Sinne noch immer nicht den Frieden mit sich selbst hergestellt hat. Leider gilt das auch, nein, nicht für die Deutschen unserer Tage, aber doch für einen nicht unbeträchtlichen Teil von ihnen. Gleichwohl läßt Bumuras unersättlicher Forschungsdrang den Schluß zu, daß der deutsche Versuch einer Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte seit 1945 ein ganz anderes Ausmaß hatte als der japanische.

Unter diesem Aspekt haben mich bei der Lektüre zwei Fakten geradezu frappiert: Daß es nach 1945 niemals Prozesse von Japanern gegen Japaner gegeben hat, kein einziges Verfahren – und nichts, aber auch gar nichts, was davor als Widerstand von Japanern gegen Japaner gedeutet werden könnte. Es hat ihn – ich gestehe meine Verblüffung – nicht gegeben. Die Japaner – ein Volk hoffnungsloser Konformisten? Es ist gut, daß Ian Burumas Buch genügend Gegenbeispiele zitiert, die immerhin manche Japaner von heute davon ausnehmen. Dennoch bleibt das gebotene Bild beklemmend genug.

Fazit: „Erbschaft der Schuld“ bestätigt die Singularität von Auschwitz, bestätigt aber die ungeheure Gefahr, die von den zwei welt- und menschheitsbedrohenden Zentren, dem nationalsozialistischen Deutschland und dem kaiserlich-militaristischen Japan, in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts ausgegangen ist.

Ian Bumura hat ein großartiges Buch geschrieben, das Kapitel über Auschwitz zumal ist das beste, was ich je dazu gelesen habe.

Wenn es denn überhaupt zwischen Ian Bumura und mir eine Differenz geben sollte, dann die, daß ich beim Lesen nicht immer die gleiche weise Nachdenklichkeit gegenüber Schuldigen und Verantwortlichen aufbringen konnte, die ihn auszeichnet. Aber das mag wohl daran liegen, daß ich, jedenfalls auf Hitlerdeutschland bezogen, eine sehr nahe, wenn auch durchaus unfreiwillige Berührung mit ihnen hatte ...

Ian Buruma, Erbschaft der Schuld, Vergangenheitsbewältigung in Deutschland und Japan. Aus dem Englischen von Klaus Binder und Jeremy Gaines, Carl Hanser Verlag, München, 408 S., 49,80 Mark.

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