„Wissen, wie der Bayer tickt“

SPD-Spitzenkandidatin Renate Schmidt heizt in 100 Meter Entfernung Landesvater Edmund Stoiber ein, als ginge es tatsächlich um Sieg und nicht um Platz: „Edi, du mußt kämpfen!“  ■ Aus Bayern Michaela Schießl

Landwirt Markus Huber hat sich schöngemacht und den Trachtenanzug gebürstet. Denn heute abend will er sich so richtig amüsieren, heute ist was los im Dorf Schwindegg, 50 Kilometer östlich von München. Renate Schmidt, die bayerische SPD-Spitzenkandidatin, kommt! Pünktlich war Huber im Festzelt, um ja nichts zu versäumen, und er wird nicht enttäuscht. Kampfeslustig steht sie da, die temperamentvolle, stämmige SPD-Frau, und verschwitzt ihr Dirndl vor Wut über die großen und kleinen Betrüger und Zwicks im Land. „Das muß ein Ende haben, aber ein bißchen plötzlich!“ schreit sie und läßt die Faust aufs Pult knallen.

Da lacht der Huber aus vollem Hals und rempelt seinen Nachbarn an: „Da ist sie laut, aber über den Sozialmißbrauch kein Wort.“ Dabei hat er gar nichts gegen Schmidt. „Nett, wirklich sehr nett und sympathisch“ findet er „das Derndl“, nur daß eine wie die halt nach drüben gehört, ins Saarland oder nach Hessen. „In Bayern hat die nix verloren, mit ihren Märchengeschichten über soziales Elend und Mißwirtschaft, Verschuldung und Steuerhinterziehung. Schaun Sie sich doch um hier: dDeses Land ist satt und gesund. Uns geht es so gut wie keinem anderen Land in Deutschland, deshalb wollen ja auch alle hierher.“

Also, schaun wir uns um. Und tatsächlich: Selbst die Metropole München ist ordentlich und sauber und gut. Dackel sind hinten amtlich versiegelt, damit sie keine Tretminen abwerfen aufs bayerische Trottoir. Ein Punk legt Zeitung unter, bevor er seine dreckigen Stiefel auf die U-Bahn-Polster packt. Arbeitslose machen sich als freiwillige Schulweghelfer nützlich, und Sozialhilfeempfänger darben abseits der schicken Straßencafés.

Draußen auf dem Land ist die Rotbäckchen-Werbung lebendig geworden. Hier heißen Jugendzentren „Rendez-vous“, und sehen auch so aus. Es riecht nach daheim, nach heiler Familie und Bauernglück, nach frischem Holz und warmem Leberkäs – und nach dem unbeugsamen Willen, dies alles gegen andere zu verteidigen.

Doch inmitten dieses geregelten Landes beweist die Natur Humor. Und verleiht ausgerechnet dem bayerischen Landesvater die Gesichtszüge des Erzfeindes: Edmund Stoiber, Ministerpräsident des Freistaates, sieht aus wie ein Preuße. Groß und schlank, sportlich und weißhaarig, kommt er daher wie eine Mischung aus Hans- Jochen Vogel und Richard von Weizsäcker. Ein hartes Los für den Mann, der sich nur durch die dreisten Umtriebe seiner Amigos an die Spitze der CSU setzen konnte und nun versucht, am 25. September erneut die absolute Mehrheit für seine Partei einzufahren.

Er kann dies selbstbewußt tun, denn die Bayen danken es ihm, daß er den senilen Max Streibl abgesägt hat. Auch die Angst, daß die SPD aus den Skandalen einen Gewinn schlägt, ist seit der Europawahl verschwunden. Wider alle Erwartungen hatte die CSU noch zugelegt.

„Die SPD kapiert einfach nicht, wie der Bayer tickt“, versucht ein Münchener zu erklären. „Wir Bayern sind so blöd, wir denken, wenn da einer so lange bescheißen konnte, dann muß das ein Pfundskerl sein.“

Daß Stoiber die Partei von den „Schlitzohren“ gereinigt hat, findet der Bayer aber schon gerecht. Doch das rechte Charisma, das urbayerische, specknackige, es geht Stoiber ab. Hart muß er kämpfen, um der erfrischenden Ausstrahlung der 51jährigen Renate Schmidt etwas entgegenzusetzen. Sie fordert den ein Jahr älteren Feigling zum Duell: „Er braucht doch keine Angst zu haben, ich will ja nichts von ihm.“

Doch näher als am vergangenen Montag will Stoiber der roten Renate nicht kommen. Beim Traditionstreffen auf der Abensberger Kirmes „Gillamoos“ waren die Kontrahenten nur einhundert Meter voneinander entfernt. In der Scheune nebenan feierte Graf Lambsdorff fast allein mit seiner FDP, und die Grünen hatten ihr eigenes Bierzelt. Ganz Abensberg und Umgebung war auf den Beinen, die Gladiatoren zu besichtigen. „Der Gillamoos-Montag ist praktisch ein Feiertag“, erklären die Einwohner. „Da bleiben die Betriebe dicht, das ist so was wie der Rosenmontag in Mainz.“

Edmund Stoiber stieg vor 3.500 Zuhörern im Hofbräuzelt in die Bütt. Doch die höchste Ekstase wollte nicht eintreten, als der Landesvater, begleitet von Frau und Pfaffe, einzog. Und ihm schien klarzuwerden: Kämpfen mußt du, Edi. Sicher, nicht um den Sieg. Aber die absolute Mehrheit will Stoiber wieder holen.

Drei Stunden dauerte sein Kampf im Schweinsbratendunst. Bald schon riß er sich das Jägerjackett samt bayrischem Verdienstorden von den Schultern und krempelte die Ärmel hoch. „Wenn Strauß sprach, konnte man eine Stecknadel fallen hören“, kommentiert ein Zuhörer Stoibers Bemühungen, gegen den zunehmenden Gesprächslärm anzuschreien.

Vielleicht war das Desinteresse die Reaktion auf sein Anfangsgelübde, nicht polemisch werden zu wollen. Doch der Patient wurde rückfällig: Nach zwei Stunden Bayernlob zog er alle Register. Schäumend vor Haß, beschimpfte er die PDS: „Diese Leute tingeln von Talk-Show zu Talk-Show und reißen im Bundestag das Maul auf, daß zuwenig getan wird für die neuen Länder – ja Sakrament, wo samma denn, daß die Brandstifter die Feuerwehr beschimpfen?“ Überhaupt der Osten: Die sollen Geduld lernen, schließlich hat man in Bayern 30 Jahre hart gearbeitet für das, was die nun umsonst wollen. „Die Menschen im Westen können sich doch nicht ausziehen.“

Da plötzlich war die Sozialneid- Ader getroffen, kam die Aufmerksamkeit der Zuhörer zurück. Bravorufe begleiteten Stoibers Ausführungen, daß die Kriminalitätsrate falle, weil weniger Asylbewerber ins Land gelassen werden, weniger „Verbrechensimport“ stattfinde. Jubel, als er gegen die doppelte Staatsbürgerschaft ansprach: „Man kann nur einer Nation dienen.“ Europa? „Bestimmte Dinge regeln wir in Bayern selbst.“ In memoriam FJS beschimpfte er den Spiegel, der nun posthum auf Franz Josef Strauß rumhacke, „mit dem er zu Lebzeiten nicht fertig geworden ist“. Ach, überhaupt sei die gesamte Amigo-Affäre ein Komplott gewesen von Medien, SPD und Grünen.

„So ist es recht, Edi!“ tönt es nun aus der Menge, und Stoiber wischt sich den Schweiß von der Stirn. „Everybody's Darling ist bald everybody's Depp“, brüllt er über Pult und Nürnberger Würstel. Nun hat er sie, jetzt kommt noch die Tränendrüse mit integriertem, heimtückischem Tiefschlag: „Ich danke meiner Frau, die mir die Kraft gibt“, schmeichelt Stoiber. Unten am Tisch sitzt Karin Stoiber und lächelt treuherzig. Die Hillary- Clinton-Frisur ist das einzige, was sie mit der klugen US-First-Lady verbindet. „Meine Frau“, sagt Stoiber, „ist voll und ganz zufrieden und ausgefüllt damit, mich zu begleiten.“ Da drückt sie doch glatt eine Träne aus dem Augenwinkel und himmelt ihren Edmund an, der zärtlich zu ihr spricht: „Sie will gar nicht mehr sein. Sie will nicht selbst als Politikerin agieren.“

So wie diese Furie dort drüben im Nachbarzelt, die es wagt, ihn herauszufordern. „Ich werde Ministerpräsidentin“, verkündet Renate Schmidt mit bewundernswertem Nachdruck. Und fast könnte man meinen, sie glaube noch selbst daran, trotz der miesen Prognosen, trotz der Aussichtlosigkeit in Bayern, trotz der Unverwundbarkeit der CSU. „Laßt euch nicht verunsichern“, rät sie den 3.000 Zuhörern. Die jubeln, wenn sie schreit: „Ich habe es endgültig satt! Wir brauchen den Wechsel! Haben wir denn noch alle Tassen im Schrank?!“

Renate Schmidt muß nicht um Stimmung kämpfen. Sie hat ihr Publikum im Griff, durch ihr Temperament und ihre Redegewandtheit. Nichts an ihr wirkt gestelzt, obgleich alles geplant ist. Die Rede und selbst die scheinbaren Ausfälligkeiten und Wutanfälle sind einstudiert. Bevor sie das Zelt betritt, bestellt sie bei der Kapelle einen Marsch und wippt, wie in der Tanzstunde, zwei-, dreimal mit dem Fuß, bis sie den Takt hat.

„Mut zur Menschlichkeit“ heißt ihr Programm, das ist die Klaviatur, auf der Bayerns SPD-Chefin spielt. Bis obenhin ist sie angefüllt mit Beispielen aus dem täglichen Leben. Verbal läßt sie chancenlose, mittelständische Ökobetriebe aufmarschieren, nichtvermittelbare 45jährige Arbeitslose, Obdachlose, alleinerziehende Mütter, verarmte Rentnerinnen. Dieses Heer der Ausgenommenen läßt sie antreten gegen die skrupellosen Großverdiener und Steuerhinterzieher.

Am liebsten jedoch rechnet Renate Schmidt vor, wirft mit Zahlen und Prozenten, Gewinnen und Verlusten um sich. Sie ist es leid, daß der SPD immer wirtschaftliche Inkompetenz vorgeworfen wird. „Im Gegensatz zu denjenigen, die ihr Leben als Verwaltungsangestellte verbracht haben, hatte ich mit 31 einen Millionenetat als Systemanalytikerin zu verantworten. Ich kann Bilanzen noch selbständig lesen!“ schimpft sie und schüttelt die blonden Korkenzieherlocken. Fast stört sie der viele Zwischenapplaus, ungeduldig hält sie sich am Pult fest, bis sie weitersprechen, die Leute weiter für sich gewinnen, den Wechsel herbeireden kann. „Ich verspreche, die Staatskanzlei personell zu verkleinern. Ich muß nicht denken lassen, ich kann selbst denken.“ Nur mit einem wird sie nicht knausern: „Steuerfahnder und Bilanzprüfer sind das, was Bayern ganz offenbar braucht.“

Renate Schmidt hat aus der Europawahlschlappe gelernt. Sie kennt die Empfindlichkeiten der Bayern, umschifft Tabuthemen und präsentiert sie neuerdings subkutan. Ungeniert lobt sie Franz Josef Strauß' Lebenswerk, bevor sie zuschlägt: „Wenn ich heute Hohlmeier hieße oder Strauß, würde ich meine Geschwister packen, ausrechnen, was der Papa mit dem Baur-Testament alles verdient hat, und würd' es an die Stiftung für Kindergelähmte überweisen. Dann erst kann man wieder erhobenen Hauptes Politik machen.“ Da das jedoch nicht geschieht, müssen alte Köpfe endlich rollen und neue her. Und wie die ausschauen sollen, ist klar: Köpfe mit Korkenzieherlöckchen.

Mitarbeit: Corinna Emundts,

München