■ Im Allgäu geht die bäuerliche Tradition den Bach runter
: Kuhglocken als Lebensretter

Ofterschwang/Scheffau (taz) – Seit der letzten Augustwoche ist im Allgäu nichts mehr so, wie es mal war. Es ist gerade so, als hätte man dem „wilden, räuberischen Bergvolk“ jegliche Tradition genommen. Ein Sonthofener Amtsrichter hatte dem Bauern Walter Haslach verboten, künftig seine zwanzig Kühe mit Schellen oder Glocken auf die Weide zu treiben. Sollte er sich nicht daran halten, wurde ihm ein Ordnungsgeld in Höhe von 30.000 Mark, ersatzweise drei Monate Haft angedroht.

Ein Ruck ging durchs Allgäu, an dem die gesamte Republik teil hatte. Noch heute füllen ganze Leserbriefseiten zum „Skandalurteil“ die Lokal- und Regionalzeitungen. Die Landbevölkerung sieht ihre Tradition aufs schlimmste gefährdet. Auch CSU, SPD und Grüne sehen unisono die bäuerliche Kultur in Gefahr. Und die Fremdenverkehrsorte sorgen sich vor einer folgenschweren Auseinandersetzung zwischen Feriengästen und Einheimischen. Anlaß für das Glockenurteil war nämlich die Klage eines Pensionsbesitzers in Ofterschwang. Dessen Feriengäste hatten sich beklagt, sie könnten nicht einmal die Tennisübertragungen im Fernsehen verfolgen, wenn die Kuhglocken so laut schepperten.

So hagelt es denn Soldaritätsadressen an Bauer Haslach, der wegen des Presserummels längst nicht mehr ans Telefon geht. Und es vergeht kein Tag, an dem nicht an irgendeinem Stammtisch immer neue Aspekte des zum Kulturstreit hochgepuschten Glockenstreits durchleuchtet werden. Jetzt sind die Kuhglocken auch noch zum Lebensretter geworden.

Am vorletzten Sonntag gegen 2.30 Uhr nachts war ein PKW-Fahrer in einer scharfen Rechtskurve im Westallgäuer Grenzort Scheffau von der Fahrbahn abgekommen. Er durchbrach mit seinem Auto einen Weidezaun und knallte auf einem steilen Abhang nach etwa 100 Metern gegen einen Baum. Nach den Worten von Michael Götz von der Grenzpolizei Weiler-Simmerberg wurde der Motor rund 30 Meter weggeschleudert, der Mann lag schwerverletzt im Auto, das nach dem Aufprall noch einmal 150 Meter weit den Abhang hinuntergerutscht war. Der verletzte PKW- Lenker wäre bei dichtem Nebel wohl kaum rechtzeitig gefunden worden, wenn nicht die Kuhglocken gewesen wären.

Einem Landwirt ist nämlich – rund zwei Stunden nach dem Unfall – aufgefallen, daß von seinen Kühen respektive deren Glocken nichts mehr zu hören war. Er machte sich auf die Suche nach den Tieren und entdeckte ein duch den Unfall verursachtes Loch im Zaun. Durch dieses Loch waren seine Kühe ausgebüxt. Der Bauer sah die Unfallspuren, fand aber das Unfallfahrzeug mit dem Verletzten nicht. Er rief daraufhin die Polizei, und der verletzte Autofahrer wurde entdeckt. „Wenn der Bauer nicht angerufen hätte, wäre wohl für den Verletzten jede Hilfe zu spät gekommen“, kommentiert Michael Götz das Geschehen. „Es waren tatsächlich die Kuhglocken, die dem Mann das Leben gerettet haben.“ Klaus Wittmann