Der Nachbildeffekt von Mediengeistern

Im Passagenwerk der Serienmörder: Eine kleine Rückschau auf die Filmfestspiele in Venedig  ■ Von Mariam Niroumand

In einer Weinlaune war kurzzeitig während des Festivals unter einigen Kritikerkollegen die Idee aufgekommen, einen gemeinsamen Anfangssatz für den Abschlußbericht zu finden. Mal sehen, ob's einer merkt. Daß sich die Idee dann nicht durchgesetzt hat, hängt nicht nur mit ihrer Schnapsigkeit zusammen, sondern auch mit den zu unterschiedlichen Befindlichkeiten auf diesem Festival, die ihrerseits wieder erstaunlich präzise Auskunft darüber geben, wo der jeweilige Filmkritiker in den Top ten seines Blattes steht. Dies aber hängt auch davon ab, welchen Platz das Kino in der redaktionsinternen Hackordnung einnimmt: illegitimer Bastard der Malerei (nur ein Film wie Jacques Rivettes „La Belle Noiseuse“ findet vor diesem Auge Gnade) oder antibourgeoises Volksvergnügen. Man hätte einen Pocket-Bourdieu dabeihaben müssen, um die Zwischentöne auszuloten, die, da bin ich sicher, ziemlich viel mit der jeweiligen Blattphilosophie und erschreckend wenig mit dem Genie des Autors zu tun haben.

Die Stadtzeitungen etwa leben von einer enzyklopädischen, euphorisierbaren Haltung zum Kino, die Malerei hat es dort schwerer, so prominent behandelt zu werden wie der neue Schwarzenegger. Bei der taz hat es das Kino unter den Kulturressorts am leichtesten, weil es dem Verdacht, allzu elitär zu sein, entgeht. Allerdings muß ein Film, wenn er zum Tagesthema avancieren will, schon einen eminent politischen, aktualitätsbezogenen Gehalt nachweisen; zu viele Konzessionen an „Mitternachtsgemeinden“ und Twin-Peaks- Emigranten werden mit morgendlichen Rüffeln bestraft. Am schwersten haben es wohl die Kollegen auf den Mahagonibänken der hohen Feuilletons; Filmseiten existieren entweder gar nicht oder werden gern mal abgeschafft, und wenn ein Film nicht gegen die Salzburger Festspiele ankünsteln kann, hat er eben Pech gehabt.

Diese Geister schieden sich nun am Festival in Venedig: für unsereinen eins der reichsten, kühnsten und pochendsten, eine Art Welttagebuch auf Zelluloid, für andere „nach vier Tagen sanft entschlafen“; außer „Martha“, der Wiederaufführung des Faßbinder-Ehedramas von 1973, nichts gewesen.

Gillo Pontecorvo, der Leiter der Mostra, hatte mit großem Tusch die Parole vorgegeben: „Normalerweise haben Festivals zwei Fronten: die Regisseure und ihre Mitarbeiter, die einander treffen und womöglich neue Projekte entwickeln; und das Publikum, das die Vorführungen ihrer Filme besucht. Zwischen den beiden besteht normalerweise nicht der geringste Kontakt, wenn man einmal die Arbeit der Kritiker ausnimmt, die zwischen beiden Polen hin- und herpendeln. Wie erreicht man eine größere Interaktivität?“

Ein Filmfest gegen den Populismus von rechts

Ohne daß er es aussprechen mußte, verbirgt sich hinter dieser Fanfare natürlich auch das Auftrumpfen gegenüber dem Populismus von rechts; die Mostra ist auch eine entfernte Verwandte der Unitá-Feste, die den italienischen Kommunisten so leicht niemand nachmachen konnte. Allerhand wurde mehr oder weniger erfolgreich veranstaltet: eine permanente Übertragung auf Canal Plus, nächtliche Gespräche, zu sehen auf einer riesigen Leinwand vor der Piazza des Casinos, zwischen Pontecorvo und den Stars; öffentliche Konferenzen zum Thema „Neue Technologien im audiovisuellen Bereich“. Das alles hebt Venedig, wie man hört, sehr angenehm vom Sunset Boulevard in Cannes oder dem Autismus in Berlin ab; aber das war es nicht. Es war ein Programm, das komischerweise gerade nicht so kompromißlerisch wirkte, wie dieses Credo erwarten ließ.

Greifen wir einen beliebigen Tag heraus, Dienstag, den sechsten zum Beispiel. Am Morgen Woody Allens „Bullets over Broadway“, wenn man so will, eine Fortsetzung des Autorendilemmas à la „Barton Fink“, plaziert in den Zwanzigern, mit schrulligeren, intelligenteren Mitteln (und natürlich in einem New York state of mind geschrieben). Später Vormittag: der Beginn von Peter Greenaways in Genf begonnenem Ausstellungsprojekt „Stairs 1 Geneva“, das architektonische Rahmungen zum Thema hat, also, wenn man so will auch die alte Frage, inwiefern das Kino ein Fenster zur Welt ist beziehungsweise zur Stadt. Ein multipliziertes Passagenwerk. Dann konnte man zur Pressekonferenz eines Films aus Makedonien gehen, der mit drei kompliziert ineinander verschlungenen Episoden über den konstanten, archaischen Bürgerkrieg zwischen Albanern und Makedoniern spricht und dabei manchmal ein gewisses Bad- Segeberg-Flair ausstrahlt. (Es war, als hätte ich jemand allein in die Prärie laufen lassen“, sagte der Regisseur Milcho Manchevski auf die Frage, ob die komplizierte Struktur des Films geplant gewesen sei.) Die Geschichte kommt ebensowenig zu einem schlüssigen Ende wie dieser alte Bruderhaß.

Apropos Bruderhaß: Der mit Abstand gelungenste Wettbewerbsfilm war Gianni Amelios „Lamerica“; und auch hier ging es wieder um die Nähe zu Albanien. Zwei halbseidene Busineßmacher, Allrightniks hätte man sie in Polen genannt, suchen sich für ihre Scheinfabrik einen Strohmann. Um den zu finden, muß der Held, eine Art Dante an der Hand von Vergil, in die Hölle hinabsteigen, die offenbar ganz Albanien unterhöhlt. Sie finden ihren Pappkameraden und verlieren ihn wieder, der junge Held muß ihn dann in den Massen suchen, die sich wie gefährliche Stromschnellen durch das Land wälzen und ihn zu verschlingen drohen. Kaum betritt er ein Dorf, hängen Trauben von Kindern an seinem Rockzipfel, die nicht jammern, sondern reißen, schlingen, ausräuchern.

Während sie und ihre Eltern mit hohlen Augen vor dem Berlusconi-Fernsehen kauern und versuchen, Goldströme aus den blonden Titten zu saugen, erscheint dem Helden Albanien als gehaßtes und gefürchtetes Alter ego Italiens: So wird es bei uns in ein paar Jahren auch sein, so grau, so dreckig, so unendlich erstickend. Von einfallslosem Naturalismus, wie er dem europäischen Kino immer wieder gern vorgeworfen wird, konnte hier überhaupt nicht die Rede sein. Amelio hat ein Inferno gesehen und zum Schluß sogar eine Arche Noah: Als der Held seinen Paß verloren hat, rettet er sich mit einer Unmenge von Albanern auf ein Schiff, das ausgerechnet „Partigani“ heißt. Hier löst Amelio in aller Ruhe die Masse wieder in einzelne Gesichter auf, die, erstmalig in diesem Film, offen und fast freundlich schauen – so sieht man wohl aus, wenn man hofft.

Sexuelle Migration war natürlich auch hier und da Thema. Es war mutig, „Pigalle“ in den Wettbewerb zu nehmen, ein Homemovie über die girls und boys biologischer und ästhetischer Provenienz, die im Pariser Rotlichtdistrikt eine wahrhaft gruselige Fabel erleben, mit Arabermessern, Opiumfolterhöhlen und zerschlagenen Peep-Show-Scheiben. Das etwas Pompöse, das dieser Erzählung anhaftet und natürlich prompt wieder die Puristen verstört hat, gehört zum Camp wie die Schminke auf dem Gesicht von Divine, der Transe, die Sie auf unserem Foto hier sehen.

Ein bißchen zwischen Mädchenpensionatsduft und der frühen Jane Campion hin- und hergerissen war „Heavenly Creatures“, der Film, den Peter Jackson nach „Braindead“ machte. (Der Film, von dem wir alle dachten, er sei der letzte Splatterfilm. Allerdings habe ich Jackson diese These vorgetragen, und er mochte ihr nicht zustimmen. Im Gegenteil hat er einen weitern Splatter in Arbeit.) Eine wahre Begebenheit aus den Schreckensjahren des Herrn, 1953/ 54: Eine Diplomatentochter und ein sogenanntes einfaches Mädchen vom Lande spinnen sich in ihre Rosenträume ein; im Film fangen auch ihre Tonsoldaten an zu leben. Wenn sie königliche Familie spielen, heißt Juliet Deborah und Pauline Paul, und sie küssen sich ein bißchen, was beide Familien aufs homophobste alarmiert. Als man sie auseinanderreißen will, erschlagen sie Paulines Mutter mit einem Stein, der in einen Nylonstrumpf gewickelt ist ... Der Regisseur und die siebzehnjährige Darstellerin von Paul/ine weisen den lesbischen Subtext ins Reich des Eskapismus, zu den Tonfiguren und den Rosen, schließlich hätte Pauline noch bei ihrer Verhaftung selbst gesagt: „Wieso, wir sind doch beide Frauen. Wie hätten wir da Liebhaberinnen sein können?“

Daß der Film ein langer, ruhiger Fluß ist, haben zwei meiner Lieblingsvenezianer bewiesen. Beide sind etwa fünf Stunden lang. Der Umgang mit der Zeit ist entscheidend sowohl für Claude Lanzmanns „Tsahal“ (s. a. Tagesthema, jawohl Tagesthema, der taz vom 9.9.) als auch für Lars von Triers Wahnsinnsopus „Riget“ oder „Das Reich“, den jeder goutieren muß, der einmal im Krankenhaus gearbeitet oder dort unter Morphinen gelegen hat.

Erzählen im Zeittakt des Fernsehens

Ein in den sechziger Jahren konstruiertes, überaus häßliches Hospital in Kopenhagen wird zum Schauplatz einer Schauergroteske, gefilmt mit der Ästhetik einer Überwachungskamera, in der man sich in einem Moment über Verse von Hans-Christian Andersen kaputtlacht, im nächsten um ein zum Gespenst gewordenes kleines Mädchen bangt, um im übernächsten Moment mit der Tatsache fertig zu werden, daß es Udo Kier ist, der diesmal aus Rosemarys Bauch gekrochen kommt, als es endlich soweit ist ... Der Zeittakt der Fernsehserie hat von Trier, wie David Lynch bei „Twin Peaks“, vom Zwang zur Narration gerade genug entbunden, um den irrsten Grillen Einzug zu gewähren; ihn andererseits aber auch an ein Personenpanoptikum gebunden, das man dann eben herzlich liebgewinnt.

Oliver Stones Zeittakt ist weiß Gott ein anderer. „Natural Born Killers“ ist ein Film, der nur über den Nachbildeffekt überhaupt noch zu erhaschen ist, und der, vom Regisseur aus gesehen, eine Satire über das Serienmördersystem sein soll. In der Tat hat die Sache etwas vom Erlebnispark, in dem nun eben statt Disney-Figuren oder Michael-Jackson-Tanzdramen oder Dinosauriern ein Killerballett stattfindet; in Schwarz und Weiß, in Fast foods, Opern und Sitcoms. Schon den Soundtrack will ich mir besorgen: Der neue Brutalo-Cohen, Patty Smith und der neue Bobby Dylan. Daß aber der Sensationsjournalist, der dem Killerpaar folgt, sterben muß, damit Mickey und Mallory leben können, (Drehbuch übrigens Quentin Tarrantino), klärt endgültig, daß Stone die bösen Mediengeister, die er rief, wegräumen will, um endlich ganz bei sich zu sein (so wie Schriftsteller was gegen die Schrift haben als etwas, was einen doch eigentlich vom Selbstrausch entfernt).

Nicht versöhnt, aber doch erheblich besänftigt hat Louis Malles neuester Film „Vanya on 42nd Street“, eine Art Tschechow over Broadway. Das Personal und die Atmosphäre von „Mein Essen mit André“, erweitert allerdings um den Rotschopf aus „Short Cuts“, die schöne Julianne Moore, und Louis Malle höchstselbst reanimieren das alte Stück. Schlag auf Schlag geht es, ruhig, aber fatal, bis schließlich Sonja in die finstere Nacht hinein sagt: Gott wird uns gnädig sein. We shall rest.