Tradition und Ausrutscher

Die internationale Fachkraft Charlotte Höhn und die „dunkle Vergangenheit“ der Bevölkerungswissenschaft  ■ Von Susanne Heim

Wer im wissenschaftlichen Werk von Charlotte Höhn – immerhin etwa 100 Fachveröffentlichungen – Lobeshymnen auf die Rassenhygiene oder Elogen auf die Eugenik sucht, wird nicht fündig werden. Höhn ist tatsächlich eine international anerkannte Fachwissenschaftlerin. Sie ist nicht nur seit 1988 Direktorin des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung in Wiesbaden und Schriftleiterin der institutseigenen Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft sowie Mitglied der Internationalen Bevölkerungskommission der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen (DGVN). Schon Mitte der achtziger Jahre saß Höhn in den Vorständen aller einschlägigen Fachvereinigungen: der Deutschen Gesellschaft für Bevölkerungswissenschaft, der European Association for Population Studies, EAPS (deren Präsidentin sie heute ist), sowie der International Union for Scientific Study of Population Problems (IUSSP). Sie ist stellvertretende Vorsitzende der Bevölkerungskommission des Europarats, ihr Beitrag fehlt auf keiner wichtigen Fachtagung und in kaum einem Sammelband zum Thema Bevölkerung, kaum ein bekannter Kollege, der nicht schon mit ihr gemeinsam irgend etwas veröffentlicht hat, ob Karl Schwarz, Hermann Schubnell oder Josef Schmid.

Charlotte Höhn (49), geschieden und Mutter einer erwachsenen Tochter, hat in Frankfurt Volkswirtschaft studiert, 1970 ihr Diplom gemacht und wurde anschließend Assistentin am Statistischen Seminar der Universität Frankfurt. 1982 promovierte sie an der Technischen Universität Berlin mit einer Arbeit über den „Familienzyklus“ und habilitierte sich 1988 an der Universität Gießen. Thema: Die Bedeutung der Bevölkerungswissenschaft für die Politikberatung. Bereits 1973 hatte sie sich um eine Stelle im eben erst gegründeten Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BIB) beworben, vergeblich. So ging sie zunächst an das schräg gegenüberliegende Bundesamt für Statistik.

Immer sachlich und staubtrocken

Beide Institutionen bilden eine „Verwaltungsgemeinschaft“. Die Gründungsvorbereitungen für das Bundesinstitut wurden im Statistischen Bundesamt koordiniert, fast alle Direktoren des BIB kamen von dort. Der jeweilige Abteilungsleiter Bevölkerungsstatistik im Statistischen Bundesamt ist zugleich nebenamtlicher Direktor des BIB. Von der Kantine über die Bibliothek bis zur Großrechenanlage nutzt das Bundesinstitut die Einrichtungen des Statistischen Bundesamts und erhält dort nicht zuletzt auch „unkomplizierten Zugang zu den amtlichen Statistiken“. Karl Schwarz, in der Zeit von 1979 bis 1982 Direktor des Instituts für Bevölkerungsforschung und noch immer dessen graue Eminenz, holte Charlotte Höhn 1980 ans BIB und sorgte dafür, daß sie später zu seiner Amtsnachfolgerin wurde.

Die meisten Schriften Höhns sind ebenso staubtrocken wie für Nicht-DemographInnen langweilig. Da geht es um „Familienzykluskonzept und Kohortenanalyse“, Modellrechnungen zur Bevölkerungsentwicklung, um „Heiratstafeln Verwitweter und Geschiedener“, aber auch – schon etwas konkreter – um „bevölkerungspolitische Maßnahmen und ihre Wirksamkeit in ausgewählten europäischen Industrieländern“.

Höhn äußert sich fast immer sachlich, vermeidet eigene Wertungen. Das war auch in jenem Interview, das die taz in Auszügen veröffentlicht hat, zunächst nicht anders. Das Gespräch dauerte etwa eineinhalb Stunden. Und mehr als eine Stunde lang hat die Direktorin in ihrem Amtszimmer auf alle Fragen sehr wohlüberlegt geantwortet, alle auch nur ansatzweise kritischen Fragen oder Streitpunkte diplomatisch umschifft.

Was veranlaßt sie, die sich von Amts wegen immer zwischen Wissenschaft und Politik bewegt, die einen überaus selbstbeherrschten, kühlen Eindruck macht und öffentliche Auftritte ebenso gewohnt sein muß wie Interviews, zu solch kompromittierenden Äußerungen? Und warum „passiert“ ihr so etwas immer, wenn von der Vergangenheit der Bevölkerungswissenschaft die Rede ist? Zur Erinnerung: Schon 1991 hatte es im Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung einen ähnlichen Skandal gegeben, nachdem in der hauseigenen Schriftenreihe eine Bibliographie erschienen war, in deren Vorwort die Bevölkerungswissenschaft im Nationalsozialismus als „seriöse Wissenschaft“ bezeichnet worden war, auf deren Ergebnisse zu verzichten es keinen Grund gebe. Höhn hatte die Veröffentlichung als „dankenswertes Werk“ gelobt. Nur unter Druck und ebenso halbherzig und unglaubwürdig wie in ihrer jüngsten Erklärung hatte sie sich auch damals distanziert – und sich anschließend zum Opfer der JournalistInnen und anderer böswilliger Menschen stilisiert, die sie sinnentstellend zitiert hätten und dem Institut „etwas anhängen“ wollten.

Wenn in den Publikationen heutiger BevölkerungswissenschaftlerInnen die nationalsozialistische Vergangenheit thematisiert wird, geschieht das in der Regel nach folgendem Muster: Zuerst ein Satz über „Verstrickung“ oder „Mißbrauch“ der Bevölkerungsforschung in „unserer dunklen Vergangenheit“, in der „versucht wurde, die Wissenschaft in den Strudel unlauterer Machtwünsche zu ziehen“ (Höhn). In Ausnahmefällen folgt noch ein etwas steif wirkendes Bedauern. Am weitesten hat Höhn sich in dieser Hinsicht vorgewagt, als sie die einjährige Beförderungssperre wegen des oben erwähnten Skandals um die Bibliographie gerade zur Hälfte hinter sich hatte: in der FAZ vom 12.9.1990. Dort wird immerhin eingeräumt, daß die „verheerende Entwicklung“ nicht nur irgendwie „geschah“, sondern „leider von vielen namhaften Bevölkerungswissenschaftlern der damaligen Zeit mitgetragen wurde“. Dieses, so Höhn, „wissen wir und ist zutiefst zu bedauern“.

Im Anschluß an solche Pflichtübungen werden dann im nächsten Satz in der Regel nicht mehr die Verbrechen der BevölkerungswissenschaftlerInnen bedauert, sondern die Diskreditierung der ganzen Disziplin durch besagten „Mißbrauch“. Es folgt ein ausgedehnter Seufzer darüber, wie sehr die „Verstrickungen“ der deutschen Bevölkerungswissenschaft geschadet haben und ihren Handlungsspielraum bis heute einengen. Lange noch sei man deswegen nach 1945 gegenüber den ausländischen Kollegen benachteiligt gewesen, hatte doch die Bevölkerungswissenschaft in der Bundesrepublik über einen Mangel an Ansehen, staatlicher Förderung und wissenschaftlichem Nachwuchs zu klagen. Keine eigene Fachzeitschrift, kein wissenschaftliches Institut, kein Lehrstuhl und lange Zeit auch noch eine eher randständige Position auf internationalen Konferenzen. Erst die Gründung des Bundesinstituts 1973, die laut Höhn dem Geburtenrückgang in der Bundesrepublik zu verdanken ist, besserte die mißliche Lage wenigstens etwas.

Eine kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte der eigenen Disziplin scheut die Bevölkerungswissenschaft. Nur zu gut weiß man um die thematischen, methodischen und personellen Kontinuitäten. Zur ersten Mitgliedergeneration der 1952 gegründeten Deutschen Gesellschaft für Bevölkerungswissenschaft gehörten unter anderem Statistiker wie Friedrich Burgdörfer, der in den 30er Jahren die Zahl der „Rassejuden“ im Deutschen Reich und diejenige des „Weltjudentums“ für das Rassenpolitische Amt der NSDAP geschätzt hatte und ein Gutachten über die Möglichkeiten erstellte, die europäischen Juden nach Madagaskar zu deportieren.

Oder Siegfried Koller, ebenfalls Statistiker. Er war 1941 am Gesetzentwurf zur Zwangssterilisation der von ihm statistisch definierten „Gemeinschaftsunfähigen“ beteiligt, deren Zahl er auf 2 Prozent der deutschen Bevölkerung geschätzt hatte. Während sein Koautor Heinrich Wilhelm Kranz 1945 Selbstmord beging, avancierte Koller nach einigen Jahren Gefangenschaft zum stellvertretenden Leiter des Statistischen Bundesamts. 1982 wurde er für seine Verdienste mit dem Bundesverdienstkreuz Erster Klasse ausgezeichnet. Zu den Festrednern gehörte auch Höhns Amtsvorgänger und Mentor Karl Schwarz, der Kollers „Pionierarbeit“ lobte. Die Ehrenreden auf den Verfasser des „Gemeinschaftsunfähigengesetzes“ wurden in der Publikationsreihe des Bundesinstituts veröffentlicht.

Ebenfalls zur Gründergeneration des Bundesinstituts gehörten der „Zigeunerforscher“ Hermann Arnold und der Astronom und Mitunterzeichner des Heidelberger Manifests Theodor Schmidt- Kaler sowie der „Rassenhygieniker“ Karl Valentin Müller. Nicht zu vergessen Hans Harmsen, der sich im Nationalsozialismus für die Zwangssterilisaton von geistig Behinderten in den Anstalten der Inneren Mission einsetzte. Wenn Charlotte Höhn heute die Fortpflanzung kranker Menschen problematisiert, so drückt sie nur etwas zurückhaltender aus, was in der Deutschen Gesellschaft für Bevölkerungswissenschaft seit Anbeginn zum geistigen Allgemeingut gehört.

Länger als in den meisten anderen wissenschaftlichen Disziplinen hat sich in der Bevölkerungswissenschaft eine Art Korpsgeist gehalten, dessen kumpanenhafter Mief den LeserInnen aus jeder Festschrift entgegenschlägt. Während andere Fachverbände sich in den letzten Jahren kritisch mit ihren Gründungsvätern auseinandersetzten – Hans Harmsen wurde die Ehrenmitgliedschaft des von ihm gegründeten Pro-Familia- Verbandes entzogen; Siegfried Koller flog aus der Biometrischen Gesellschaft raus – setzen die Bevölkerungswissenschaftler auf die „biologische Lösung“.

Dort geht man auf Distanz zu den eigenen Kollegen öffentlich erst, wenn sie bereits verstorben sind – und auch dann nur vorsichtig und nicht zu allen. So kostet es Charlotte Höhn nichts, sich von dem 1969 verstorbenen Burgdörfer abzugrenzen oder von Harmsen, der ihr, so sagte sie jedenfalls im Interview, „schon lange verdächtig vorkam“. Kurz: Um wenigstens Teile der eigenen wissenschaftlichen Traditionen zu retten, teilt man die Disziplin in die „schlechte“ Rassenhygiene und die vermeintlich unbelastete, im Nationalsozialismus „in den Hintergrund“ getretene „Bevölkerungsökonomie und Bevölkerungstheorie soziologischer Art“.

Die Toten verteufeln, die Lebenden ehren

Ähnliches geschieht mit den geistigen Vätern des Faches: Personelle „Verstrickungen“ werden nach Möglichkeit nicht namentlich konkretisiert. Der verhaltenen Kritik an Burgdörfer, Harmsen oder dem eigenen Amtsvorgänger Jürgens entspricht die um so vehementere Verteidigung Gerhard Mackenroths. Mackenroth hatte 1953 das Buch „Bevölkerungslehre“ veröffentlicht; ein Standardwerk der deutschen Bevölkerungswissenschaft. Er hatte sich tatsächlich von Teilen der NS-Bevölkerungslehre distanziert. Einen „Lichtblick“ nennt das Charlotte Höhn – so daß nach Parallelen im methodischen Vorgehen oder den eugenischen Positionen zur Zwangssterilisation von Behinderten gar nicht erst gefragt wurde. Dabei steht auch in Mackenroths „Bevölkerungslehre“ die Empfehlung, „Schwachsinnige“ an der Fortpflanzung zu hindern, indem man sie sterilisiert, da eine Internierung zu kostspielig sei. Vor zwanzig Jahren will sie Mackenroth zuletzt gelesen haben – aber noch 1990 zitiert sie in einem von Heiner Timmermann herausgegebenen Buch lange Passagen der „Bevölkerungslehre“ im Wortlaut. Und im Interview fragt sie dann: „Aber mal im Ernst. Ist das erstrebenswert, daß sich Menschen, die krank sind, vermehren? Ist das vielleicht gut?“