: Vorsicht vor dem Bühnenproletariat
Deutsches Avantgarde-Theater (letzter Teil): Antizivilisiertes in Mecklenburg-Vorpommern ■ Von Arnd Wesemann
Die Einladung ins Performing TestLabor Schloß Bröllin verband sich mit der angenehmen Vorstellung von einem Herrengut, eines flackernden Kaminfeuers, einer moosbewachsenen Freitreppe – Dorf drumrun, flache Teiche, ein Anger mit Kuh drauf und grobes Kopfsteinpflaster. Bröllin liegt in Mecklenburg-Vorpommern und erinnert an Fontane. Das Schloß verfügt über ein klobiges Rittertürmchen, das einen armen, längst vertriebenen Landadel anzeigt. Zuletzt war es der Bauernhof einer LPG für Massentierhaltung. Berliner Theatergruppen wie „RA.M.M.“ und „tatoeba“ haben sich vor drei Jahren auf dem ehemaligen Mastbetrieb niedergelassen. Ihre ästhetische Nähe zum Bestiarium ließ diese Gruppen über Berlin hinaus bekannt werden.
Die Hauptstadt ist anderthalb Stunden entfernt. Berliner Dorfästhetik, ihr Hang zum Stallgeruch, ihr kreativer Reiz, den sie vor Schutthalden verspüren, und die horrenden Berliner Mietpreise hatten die Theatermacher dazu bewogen, 40.000 Quadratmeter renovierungsbedürftiges Gelände in der Nähe von Pasewalk statt mit Viehzeug mit Kultur zu bewirtschaften. Aus alten Ställen qualmt der Duft sehnsüchtiger Künstelei: Ein Zeichen von „Inzest“, mutmaßt der Regisseur zu Gast, Harald Siebler. Nichts da. Erstmals wurden auf dieses riesige Areal der preisgünstigen Probenräume (auch für andere Musik- und Theatergruppen, Telefon 039747-235) holländische, kroatische, deutsche und bulgarische Theaterleute eingeladen. In einem kleinen Schober legten sie eine in Ermangelung eines Kaminfeuers leicht verfrorene Analyse zur Zukunft der Avantgarden vor.
Eingeladen hatte unter anderen Kathrin Tiedemann vom Ostberliner Magazin Theater der Zeit. Sie schlug eine Ortsbestimmung der heutigen Bühnenavantgarde unter dem Motto „ZivilisationAntiZivilisation“ vor. Diverse Performances äußerten sich dahin gehend zwischen undichten Dächern, Stoppelfeldern, Schlammpfützen und Heustapeln. Über einem klammen Refektorium bat Edgar Jager, der Wortführer der Amsterdamer „Barockfuturisten“, solch zugige Gastfreundschaft bitte zu überdenken. Die natürliche Gabe der Gastfreundschaft, Menschen am Abend mit „emotionellem Denken“ zu bewirten, sei an nahezu allen Theatern abhanden gekommen. In Bröllin könnte sie exisiteren, in der „antizivilisierten“ Abgeschiedenheit, dort, wo die Gruppen frei und Zuschauer selten sind: Diesen „Freien Theatern“ aber warf Jager vor, daß sie „das Theater selbst zu einem Markt getragen haben, welcher nur noch aus Konkurrenz, Moden und kaltem Marketing besteht“.
Ist das Theater allein noch ein Zentrum „fröhlicher Dummheit“, sollen nur möglichst große Besuchermassen durchgeschleust werden? Theater verkomme zur reinen Funktion, so klagte der Autor und Regisseur Ivan Sanev, auch die Schauspieler seien funktionalisiert: „Der Akteur tut nur so, als ob er spielt, aber er spielt nicht.“ In Bröllin, ja, da „experimentiert“ der Schauspieler, spielt im Matsch, formt aus sattem Lehm leblose Theaterfiguren. Was aber treibt die Avantgarde dorthin? In der Abgeschiedenheit des Performing TestLabors sieht Arthur Kuggeleyn sein „RA.M.M.“-Theater der Bedrohung enthoben, als ökonomische Überflüssigkeit unter die Räder zu geraten. Man fühle sich wohl hier wie unter Behinderten, die entweder nicht können, was sie wollen, oder nicht wollen, was sie tun könnten. Das führe zu einem psychischen Stau, und ein Stau führt zu Perversionen, also zu einem perversen Theater.
Und nur das hat auf dem Markt Bestand, weit weg von Bröllin. In Budapest, beim letzten Treffen des Informal European Theatre Meetings (IETM), der Organisation für den internationalen Austausch Freier Theatergruppen, wurde wieder mal der Marktwert aller auf Festivals tourenden „Freien Theater“ festgelegt. Die einstige Mitbegründerin der IETM, Gordana Vnuk, Leiterin des Eurokaz-Festivals im kroatischen Zagreb, kam nach Bröllin, um den jüngsten ungarischen Börsenskandal zu melden. Fehlspekulationen bei der internationalen Börse des Freien Theaters würden ernsthafte Schäden anrichten. Nicht Theaterleute, sondern Bürokraten, Kulturmanager und Marketingexperten „handeln beim IETM mit unserem Theater wie andere mit Butter“.
Die zumeist Exlinken, die es in die „Kultur“ getrieben hat und die auch in Deutschland zahllose Festivals und Kulturhäuser leiten, sind laut Gordana Vnuk ungenügend darüber informiert, welche tatsächliche Theaterkunst existiert – sie handeln mit Namen, die sich die Manager der Sommerfestivals gegenseitig zuflüstern. Meist gehe es dabei um eine „coole und selbstreferentielle“ Theaterästhetik, wie sie im Verbund von TAT, Hebbel- Theater und Wiener Festwochen entwickelt werde.
Draußen im Hofgelände des Schlosses zu Bröllin ähnelten sich die Performances ebenfalls, nur anders: Spektakelkultur mit Stelzenläufern, Feuerzauber und schiefen Celloklängen – nicht eben das, was freundschaftlich noch unter Theaterkunst verstanden werden kann. Gordana Vnuk zollte ihnen keinen Blick und fuhr fort, unentdeckte Gruppen aus Italien, Brasilien und Albanien aufzuzählen – die neuen Aktien eines „Post- Mainstream“, wie sie es nannte. „Post-Mainstream“ klingt nach Protest gegen die mediokren Sommerspektakel, wie sie allerorten soeben zu Ende gehen. Es klingt nach dem Traum von einem Markt jenseits des Theatermarketing, wie er sich hier in dem matschigen, stillen, landluftigen Bröllin so entsetzlich einfach zusammenträumen läßt. Doch auch der Rückzug nach Bröllin ist nur eine ökonomische Entscheidung, eine der Sparsamkeit. Hier oder anderswo gilt, daß Theaterleute Nomaden der Theaterkunst bleiben werden. In Zukunft sollen sie immer größere Entfernungen zwischen den Festivals zurücklegen. Adelaide, dann Anchorage. Ihre Theaterstile werden immer differenzierter, fast jährlich bedürfen sie laut IETM einer Neuerung – vielleicht werden sie auch immer ähnlicher, aber nicht auf Grund der „Musicalisierung“ des Freien Theaters, sondern durch die mestizenhafte, kreolische Vermischung, wie sie zu jeder nomadischen Völkerwanderung dazugehört. Die Festivals verlangen laut IETM immer weniger Kunst und immer mehr Show. Der Adelsbrief des bedächtigen Künstlers, einst ausgestellt durch die Gastfreundschaft des Feudalismus, scheint selbst in der Zurückgezogenheit von Bröllin abgelaufen. Die Internationale der einstigen „Avantgarde“ wird noch bis zur Jahrtausendwende damit beschäftigt sein, einen Markt zu kreieren, auf dem man mit immer weniger Subventionen Bestand haben kann. Wie sagte von dieser Zukunft des freien Gruppenmarktes ein Bühnenvereinsmitglied schon in den zwanziger Jahren: „Wehe dem armen, vagabundierenden Bühnenproletariat, es rennt zwar ins Sittenlose, aber es verdirbt die Kunst.“
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