Je nach Einkommenslage

„Marx 2000“ im ethnografischen Museum NeuchÛtel zeigt die postmoderne Verwertung des Menschen  ■ Von Stephan Geene

Im Zusammenhang mit Biotechnologie wird heute davon gesprochen, daß „Leben“ zur Ware geworden ist. Dabei wird meistens an Organhandel oder die Patentierung von Genabschnitten gedacht. Für den Ökonomen Marx jedoch galt nicht Leben, sondern Arbeitskraft als eine Ware. Anders als bei Marx wird Arbeit heute weniger als Kategorie angesehen, um Mensch, Leben oder Welt zu erklären. Der „Stoffwechsel mit der Natur“ findet nicht mehr statt. „Ecce Homo“ wird im Freizeitanzug nachgestellt oder als Abbild des Elends.

Die Ausstellung „Marx 2000“ im ethnografischen Museum NeuchÛtel beruht auf einem ähnlichen Gedankengang. Ein „kritischer Blick auf die ultraliberale Gesellschaft am Ende dieses Jahrhunderts“ wird im Eingangstext angekündigt, in der „nichts und niemand mehr dem Verkauf, dem Katalog oder dem Patent zu entgehen vermag“. Die Autobahnbrücken um Bern herum sind voll von „Stop-Patente-auf-Leben“-Graffiti und kontern ein wenig den bourgeoisen Eindruck, der sich bei der Anfahrt zur Ausstellung inmitten der Schweizer Idylle aufdrängt: Das im großzügigen Park gelegene Museum leistet sich in mehrfacher Hinsicht Komfort und Ruhe. Pro Jahr wird nur eine Ausstellung erarbeitet und ganzjährig gezeigt. Das erlaubt für „Marx 2000“ die aufwendige Inszenierung einer Art Einkaufspassage: Wie ein Messestand steht im „AMA's-Center“ die „Boutique Ambroise Paré“ neben „Charles Darwin Engineering“ und grenzt an den „Espace Marcel Duchamp“ oder die „Niccolo Machiavel Consulting“. „Services sophistiqués“ werden in den Bereichen „Körper, Natur, Kultur, Macht, Kommunikation, Religion und Ausschluß“ angeboten. Die Vitrine der Boutique Paré zeigt diverse „Ersatzteile“ des menschlichen Körpers – vom Herzschrittmacher zur künstlichen Niere – und gibt die genauen Handelspreise an. Im beiliegenden „Werbezettel“ spricht der Renaissance- Mediziner Paré: „Ich, Ambroise Paré, Vater der modernen Chirurgie, möchte Ihre Aufmerksamkeit auf die Qualität des hier versammelten Sortiments lenken“.

In der angrenzenden Abteilung bietet Charles Darwin die Mehrzweck-Bakterie „Superbug ZK12“ an als den genetisch manipulierten und vermehrten Prototyp des „Proletariers der Neuen Epoche“. Der „Espace Marcel Duchamp“ wirbt für das Readymade (Urinoir oder Flaschentrockner) als Zeichen der „Allmacht des Autors“. Kunst, die „immer und fundamental eine Kopie“ sei, wird in einer Computer-Animation umgesetzt: eine Comicfigur, die als Maler in seinem Atelier auf und ab geht, nachdenkt, Klavier spielt, ein Buch liest, um dann, künstlich-kreativ aufgetankt, seine Staffelei weiterzubearbeiten. Nur die Rückseite ist bis zur Vollendung des virtuellen Werkes zu sehen. Dann werden die Daten des Bildes für das Publikum ausgedruckt. Die Tagesproduktion der vollendeten Zufallswerke wirkt eher willkürlich und läßt den Betrachter kalt, aber das soll sie auch. Ähnlich anschaulich werden Macht – als erlernbares Vermögen, sie zu gewinnen –, McLuhans Telekommunikations-global village oder Religion dargestellt. Reduziert aufs „Wesentliche“, Ewigkeit, ist Religion im „Phénix Temple“ demokratisch zugänglich gemacht und jeder Einkommenslage angepaßt worden. Der letzte Verkaufsstand ist pointiert aggressiv: „Konflikte aller Art sind paradoxerweise zum Erzeuger von Reichtum geworden, den eine wachsende Zahl von Organisationen verwalten möchte“, kommentiert Henri Dunant fiktiv die Optionen von Caritas, Benetton und Rotem Kreuz, dessen Wegbereiter er war.

Hinter dem Logo AMA verbirgt sich eine Analyse Marx' aus dem Kapital. Neben dem Tauschprozeß, der aus einer Ware (M=Marchandise) Geld (A=Argent) macht, um mit dem Geld wieder Ware erwerben zu können, sieht Marx parallel einen anderen Tauschprozeß: Geld wird nur in eine Ware umgesetzt, um daraus wieder Geld zu machen. Wertschöpfung erscheint losgelöst von der materiellen Produktion, ist statt dessen Dienstleistung oder nur noch „Information“. Hier kommt die Ausstellung postmodernen Klischees nahe, die die Wirklichkeit der Objekte für überholt halten, „Information“ zur eigentlichen gesellschaftlichen Substanz erklären und daraus eine immaterielle Gesellschaftslogik ableiten. Mit solchen Vorstellungen scheint Marx 2000 zu sympathisieren, ohne aber explizit Position zu beziehen. So bleibt die Marx-Rezeption des französischen Philosophen Lyotard ausgeklammert, der 1985 anläßlich seiner Ausstellung „Les Immateriaux“ über Marx sagte, dieser „ahnte bereits in den Grundrissen, daß die wissenschaftliche Erkenntnis selbst zur Produktivkraft werden und als Arbeitskraft in den Kreislauf des Werts integriert werden würde“. Marx 2000 sichert sich gegen eine postmodern-idealistische Entwirklichung durch Marx selbst ab: Ideen können die Welt nicht verändern, sie können nur Ideen über die Welt verändern. Um diese zu realisieren, bedarf es Menschen, dies zu tun, schreibt Marx in der „Heiligen Familie“. Daß diese Wirklichkeitsfrage der Weltvermittlung in der Ausstellung nicht thematisch ist, mag naiv sein oder intelligent – oder beides.

Das AMA's-Center ist eingerahmt in zwei Versionen des „Sozialen“, die Geschichte der Arbeit im 19. Jahrhundert und das Elend des gesellschaftlichen Ausschlusses in der Gegenwart. Im Eingangsbereich sind in einer Schaufensterpassage Fragmente einer Geschichte der Arbeit (des Proletariats) dargestellt. Sie werden vor dem Hintergrund totaler Kommerzialität reflektiert, die aus Geschichte Kitsch und Nostalgie gemacht hat; Accessoires und Souvenirs aus dem Bergbau, der Landwirtschaft, der Stahlindustrie sind angehäuft und zeugen wie Plakate und Aufrufe von den vergangenen Tagen einer ausgetragenen sozialen Spannung, von kommunistischen Versammlungen, Streiks, dem Mai 68. Die Souvenirs haben Preisschilder, und wenn ein Gegenstand astronomisch hoch bewertet wird, liegt es daran, daß die Ästhetik der Arbeit auch vom Luxus vereinnahmt worden ist und für Kunst herhält: Ein Kunstwerk von Luiginbühl, das wie ein Modell landwirtschaftlichen Nutzgerätes aussieht, kostet 60.000 Franken. Ein wandgroßes Poster des französischen Films „Germinal“ demonstriert die aktuellste Version nationalstaatlich instrumentalisierter Sozialgeschichte. Ein „Die Wiederkehr des Gespenstes“ benanntes Kabinett bildet das Gelenkstück zum letzten Teil der Ausstellung. Das „Gespenst“ spielt auf Jacques Derridas jüngstes Buch an, seine Konversion zu Marx, „Spectres de Marx“. Derrida überblendet darin das Gespenst, das Marx und Engels im „Kommunistischen Manifest“ beschworen – der Kommunismus, der in Europa umgeht – mit marxscher Restpräsenz, die als Geist/Gespenst wie Hamlets Vater penetrant eine Wahrheit verbreiten will, der nicht zu entgehen ist und die dennoch nicht integriert werden kann. An dieser Stelle ist die Ausstellung übertrieben lückenhaft und formuliert sich in Anspielungen. Zum Nachweis der Aktualität Marx' werden Textkürzel der drei historischen „Geister“ Sartre, Balibar und Derrida angegeben, deren Schnittmenge irgendwo zwischen Philosophie und dem Sozialen liegt. Lebensdaten und Briefausschnitte von Marx reichern diese Kombination willkürlich an. Es genügt gerade, um das „Gespenst“ zu beleben. „Der finale Kampf“ ist der Blick auf den sozialen Zustand der Gegenwart betitelt: „Metapher des Selektionsprozesses, der die Eliten und die Gewinnobjekte in den Bereichen der Politik, der Unterhaltung, des Sports, der Wissenschaft, der Finanzen oder der Kultur produziert“. Die Ausstellung illustriert dies als Stimmungsbild; Gewinnerfotos von SportlerInnen und PolitikerInnen und Hollywoodstars leuchten im Halbdunkel – während im Vordergrund, den Blick verstellend, Pappkartonhäuser, Müll, Accessoires der Armut aufgebaut sind: die ausgeschlossenen „Obdachlosen, Pygmäen, Arbeitslosen, Drogenabhängigen, ... Aidskranken, ...“. Dazwischen eine Tür, verschlossen, das Arbeitsamt. Am wirklichen Ende, etwas allgemein, die „Strahlende Zukunft“, die in der Ausstellung zugleich Ausgang ist. Dekorative Reihen parallelisieren klonierte Tomaten und klonierte Babys.

Die Aufbereitung des Themas grenzt in ihrer Zugänglichkeit an eine kommerzielle Veranstaltung, gewinnt dabei aber an Tiefe, da Kommerzialität der Mittel und Kommerzialität als Thema konvergieren und damit sowohl trivial und pointiert sind. Wie im graphisch effektiv genutzten Plakat zur Ausstellung, das ein Marx-Portrait nur durch das Gitter einer Gensequenz erkennen läßt, mit dem wiederum ein „Rezept“ für das Rinderwachstumshormon beschrieben wird. Ein Gegenwarts- Marx ist hier sprachlos formuliert. An der Sprach-Werdung fehlt vielleicht Arbeit (sie wird weder im kleinen Katalog noch im Textbuch nachgeholt). Die Komplexität der Ökonomie einer Gesellschaft zumindest erscheint einfach. Es kann am „ethnographischen“ Blick des Museums in NeuchÛtel liegen, den die Ausstellung mit eingestreuten Kulturprodukten der Weltkulturen, mit Masken aus Kuba, Afrika oder Indonesien, wachhält.

Bis 22. 1. 1995, im ethnografischen Museum NeuchÛtel