Dynamisch ist nur die Krise

Chemiekonzern Hoechst im Umbruch / Vorstandschef Dormann: In Deutschland kein Geld mehr zu verdienen  ■ Aus Frankfurt/Main Klaus-Peter Klingelschmitt

Einmal im Jahr läßt das Manager-Magazin exakt 2.100 leitende Angestellte von Großunternehmen in der BRD das Image von Pharmafirmen bewerten. 1994 kam Schering auf den ersten Platz, und der Hoechst- Konzern in Frankfurt-Höchst erhielt die rote Laterne. Spitze ist die Weltfirma Hoechst zur Zeit nur beim Abspecken von Personal. Tausende von MitarbeiterInnen wurden bereits entlassen – und Tausende werden ihren geschaßten KollegInnen in den nächsten Jahren noch in den Vorruhestand oder in die Arbeitslosigkeit folgen.

Weil Anglismen in der wunderbaren Welt der Wirtschaft zur Zeit Hochkonjunktur haben, spricht der neue Vorstandsvorsitzende Jürgen Dormann (54) dennoch von sustainable development – einer vor allem moralisch verantwortbaren Weiterentwicklung der Weltfirma. Dormann will, daß bei Hoechst endlich Schluß gemacht wird mit der alten end-of-pipe-Philosophie – nach der Umweltschäden nicht vermieden, sondern nachträglich beseitigt werden –, für die sein Vorgänger Wolfgang Hilger stand und (als Privatier in zahllosen Aufsichtsräten) noch immer steht. Revolution oder Evolution bei Hoechst? Dormann entscheidet sich für die Evolution, denn die Fortentwicklung eines Unternehmens sei „etwas ganz Natürliches“. Dormann: „Wir haben alle zu lange zu statisch gedacht und uns entsprechend verhalten.“

In der Tat, dynamisch entwickelte sich bei Hoechst und vor allem bei der Hoechst AG nur die Krise. Als Dormann im April 1994 den Schreibtisch von Hilger übernahm, hatte sich der Konzerngewinn vor Steuern 1993 im Vergleich mit 1991 auf magere 1,476 Milliarden Mark halbiert. Und bei der Konzernmutter Hoechst AG schmolz die operative Gewinnmarge in nur einem Jahr von 1,1 Milliarden Mark auf schlappe 290 Millionen zusammen – Tendenz weiter fallend. Als „Leidensgebiet“ für den Konzern bezeichnete Hilger bei seiner Abschiedsvorstellung auf der letzten Hauptversammlung deshalb die Staaten der Europäischen Union (EU). Denn während der Konzern noch immer gut 60 Prozent seiner Produkte in Fabriken in der EU (vor allem in Deutschland, Frankreich und Italien) herstellen läßt, lag der Anteil der EU-Töchter am Betriebsergebnis 1993 (1,476 Mrd. Mark) nur noch bei 19 Prozent. So ging etwa im Mutterland des Chemiegiganten mit der „Keimzelle“ (Hilger) Hoechst AG der Umsatz um 9 Prozent zurück. Und nur noch die Zuwachsraten in Nord- und Südamerika und in Asien retteten den Konzern vor den gefürchteten roten Zahlen in der Bilanz.

Parallel zur ökonomischen Talfahrt ging es mit dem Image der Firma steil bergab. Die Störfallserie vom Frühsommer 1993 hielt den Konzern monatelang in den Schlagzeilen. Und die unprofessionelle Arroganz, mit der gerade Hilger und seine Referenten in der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit die explosiven Ereignisse vor allem im maroden Stammwerk kommentierten, sorgte zusätzlich für in- und externe Spannungen. „Was ist schon eine Landesregierung gegen den Vorstand eines Weltkonzerns?“ hatte Hilger noch auf dem Höhepunkt der Störfallserie getönt. Doch dann war der Vorstand von Hoechst die erste Konzernführung in der Geschichte der Bundesrepublik, die zum Rapport bei einem Umweltminister antanzen mußte. Nie zuvor in der Nachkriegsgeschichte von Hoechst lag das (Umwelt-)Image des Konzerns so am Boden wie vor dem Wechsel auf dem Vorstandssessel in der Konzernzentrale.

Was ist nun dran an dem von Dormann versprochenen sustainable development? „Entfrosten“ und „entrosten“ will der Mann, der vor seiner Berufung an die Konzernspitze im Vorstand für das Finanz- und Rechnungswesen zuständig war, das gesamte Unternehmen. Und das heißt zunächst einmal für Betriebsräte und Gewerkschaftler – ganz unsustainable – Massenentlassungen. Denn die Hinwendung zu neuen Technologien impliziere den Abbau von Arbeitsplätzen, vor allem an den europäischen Standorten und ganz besonders in Deutschland. Für Dormann ist der Konzern längst kein deutsches Unternehmen mehr, nicht nur weil der Anteil der deutschen Hoechst AG an dem für dieses Jahr prognostizierten Konzernumsatz von 50 Milliarden Mark nur noch rund 14 Milliarden betragen werde. Ein kuwaitischer Großaktionär allein hält mehr Anteile am Konzern als alle deutschen Aktionäre zusammen. Und der größte Einzelmarkt für Hoechst sind die USA. Dormann schon im Juli in einem Zeit-Interview: „Geld verdienen wir in Deutschland sowieso nicht – leider.“ Und sein Vorgänger, so die süffisante Anmerkung, habe den Patriotismus wohl „ein bißchen übertrieben“.

Deshalb will Dormann in den nächsten zwei Jahren allein in Europa 500 Millionen Mark pro Jahr einsparen. Unrentabel gewordene Sparten wie etwa Fasern und Kunststoffe sollen entweder gleich eliminiert oder aber zu schlagkräftigeren Einheiten umgebaut werden. Seit die Textilindustrie (fast) nur noch in der Dritten Welt produziert, sind die Farbwerke Hoechst AG in Deutschland aus dem Rennen um Marktanteile bei Fasern und Farben so gut wie ausgeschieden. Und bei den Kunststoffen fuhr der Konzern 1993 operative Verluste von 250 Millionen Mark ein. Auch der Bereich Pharmaka wird vom Vorstand als „marode“ eingeschätzt. Und im Zuge der Seehoferschen Gesundheitsreform rechnet man bei der Hoechst AG mit weiterem Umsatzrückgang (1993 minus 150 Millionen).

Die Durchforstung der Konzernbereiche durch den als „peniblen Rechner“ geltenden neuen Vorstandsvorsitzenden wird allein in diesem und im nächsten Jahr 8.000 Beschäftigte den Arbeitsplatz kosten. Rund eine Milliarde Mark hat sich der Konzern diesen Umbau und (Stellen-)Abbau durch Sozialpläne schon 1993 kosten lassen. Für 1994 wurden bereits weitere 500 Millionen Mark an „Personalverschlankungskosten“ allein für das Stammhaus in Höchst veranschlagt. Und diese Ausgaben, so Hilger auf seiner letzten Pressekonferenz im April, hätten dazu beigetragen, daß Schmalhans Bilanzküchenmeister bei Hoechst geworden sei.

Um sich vom Image der Umweltskandalnudel der Nation verabschieden zu können, hat Hoechst die Öffentlichkeitsarbeit intensiviert: Pressematerial in Mappen aus Recyclingpapier über ökologisch sinnvolle Initiativen wie etwa die drastische Einsparung von Brauchwasser durch sogenannte Rückkühlwerke geht gleich pfundweise an die Redaktionen. Und mit dem Info „Hoechst im Dialog“ sollen die AnwohnerInnen der Farbwerke, denen der Konzern 1993 etwa im Falle Schwanheims übel mitgespielt hat, wieder ruhiggestellt werden. Doch entscheidende Veränderungen etwa bei der Produktpalette sind bislang ausgeblieben. Nach wie vor hat sich Hoechst der Chlorchemie verschrieben. Und auch Dormann denkt nicht an Ausstieg, auch wenn er Bereitschaft signalisiert, darüber nachzudenken: „Chlor ist eines der Produkte, die man sehr kritisch prüfen muß.“ Das für den Umweltschutz zuständige Vorstandsmitglied Karl Holoubek hatte schon gleich nach der Amtseinführung von Dormann verkündet, daß sich Hoechst dem internationalen Umweltschutzprogramm der Chemieindustrie („Responsable Care“) verpflichtet fühle. Doch Holoubek durfte darüber Klage führen, daß die hohen Umweltschutzauflagen für den Konzern einen entscheidenden Wettbewerbsnachteil darstellten: „Die Produkte, die wir hier aus Kostengründen aufgeben, werden häufig für den Weltmarkt in Anlagen produziert, die in bezug auf Umweltschutz, Arbeitshygiene und Sicherheit weit unter dem Standard der Anlagen liegen, die wir hier stillegen müssen.“ Dormann wird also noch beweisen müssen, ob er das Image des Riesen gerade auf dem Umweltsektor verbessern kann. Und er wird den Beweis dafür antreten müssen, daß sich sein sustainable development nicht in aufeinanderfolgenden Entlassungswellen erschöpft. Ein nachvollziehbares Gesamtkonzept für die langfristige Gesundung von Konzern und deutscher AG hat der Mann bislang noch nicht vorgelegt. Selbst an der Konzernspitze glauben nicht wenige, daß Dormann aus den traditionsreichen deutschen Farbwerken einen Weltkonzern mit Firmensitz in den USA zu schmieden gedenkt. Ein Problem damit, so Dormann in der Zeit, hätte er nicht, allenfalls die deutschen Finanzpolitiker. Denn der größte industrielle Arbeitgeber in Hessen würde dann in Deutschland keine Steuern mehr zahlen. Und seine längst entlassenen ArbeiterInnen auch nicht mehr. Was ist schon ein Finanzminister in Bonn im Vergleich mit dem Vorstandschef eines Weltkonzerns?