Der Wechsel ist immer noch machbar

■ Wer eine Reformregierung in Bonn will, muß sich mit der PDS arrangieren

Die Mitte ist stark, eine Große Koalition jederzeit möglich in Deutschland. Stolpe wäre auch in Dresden, Biedenkopf in Potsdam gewählt worden. Nicht nur die Personen, die großen Parteien sind austauschbar und deshalb auch zusammenfügbar, wenn es die eine allein nicht schafft. Der Zeitgeist drängt nicht auf Wechsel, aber er läßt ihn immer noch zu.

In Bonn ist alles offen. Jedenfalls wenn die Parteien sich nicht weiter mit dem Zumauern von Optionen beschäftigen. Jede Veränderung gegenüber der jetzigen Regierung wird mit einem „Wählerbetrug“ verbunden sein.

Wird Schwarz-Gelb nicht bestätigt, kann nur eine Koalition gebildet werden, die meistens von einem der Akteure vorher prinzipiell ausgeschlossen wurde. Große Koalition (SPD und CSU), Ampelkoalition, Rot-Grün mit PDS- Tolerierung (Sozialdemokraten und Bündnisgrüne). Die CDU kennt manche Lüge, von einer Koalitionslüge ist sie als einzige nicht bedroht. Die Koalitionsausschluß- Rhetorik der anderen kann man auch verstehen als Angst vor dem Gegner, dem Wähler und dem Wandel.

Da Rot-Grün zur Zeit mit vier Prozent hinter Schwarz-Gelb zurückliegt, kann es zu einem Regierungswechsel nur kommen, wenn die PDS in den Bundestag einzieht. Dann gibt es zwei Möglichkeiten für einen Wechsel: Ampelkoalition oder PDS-Tolerierung. Die Ampel nicht mit den ideal gedachten, sondern den real existierenden Liberalen nimmt fast schon den Charakter einer Drohung für die Reformbereiten an. Der Besitzindividualismus und die Blindheit der FDP für Gesamtinteressen machen sie zu einer Reformblockade – entweder vor oder, schlimmer noch, in der Koalition.

Der Trend der PDS ist nicht gebrochen. Sie ist die einzige Partei, die in beiden Bundesländern dazugewonnen hat, ihre Aussichten, drei Direktmandate zu gewinnen und so mit zwanzig bis dreißig Abgeordneten in den Bundestag einzuziehen, sind günstig. Man „killt“ den Überbringer schlechter Nachrichten, aber es stimmt: Eine Reformregierung in Bonn ist nicht ohne die PDS zu denken.

Es gibt viele Gesichtspunkte, die PDS zu beurteilen, und legitime Gründe, sie leidenschaftlich abzulehnen. Ihr mageres, zusammengeklautes, vielfach links-traditionalistisches oder populistisches Politikprofil. Die Erfahrungen der Bürgerbewegten, die Intoleranz und Repression der Genossen erlitten haben und zum Totalitarismus keiner Belehrungen bedürfen (sie haben ihn besiegt). Die erst halbherzige, dann eingestellte Vergangenheitsbewältigung der PDS. Keines dieser und vieler anderer, legitimer Argumente gegenüber der PDS muß man verschweigen, verdrängen, vergessen. Man muß alle im Auge behalten, aber man muß sich entscheiden.

Mit der PDS leben

Wenn man sich für eine Reformregierung entscheidet, muß man auch mit der PDS in Bonn leben. Dafür gibt es Gründe, ich nenne drei:

(1) Die Verlegung der PDS auf die Quarantänestation soll den Status quo sichern. Mit der PDS- Kampagne mobilisiert die CDU/ CSU ihre Anhänger im Westen, treibt der PDS im Osten Stimmen zu, um sie anschließend im Bundestag zu neutralisieren. Kohl will die Kanzlerschaft, ob mit der FDP oder der SPD, ist zweitrangig. Jetzt werden die Weichen gestellt, ob in den kommenden acht bis zwölf Jahren Reformalternativen eine Chance haben. So lange muß man mit der PDS als starker Regionalpartei des Ostens rechnen. Sie aus dem parlamentarischen Spiel herauszuhalten wäre ein Meisterwerk des politischen Konservatismus in Deutschland.

(2) Es gibt positive Beispiele, wo sich Sozialdemokraten in Minderheitsregierungen von eurokommunistischen oder linkssozialistischen Kleinparteien tolerieren ließen: in Schweden und Dänemark. Und Kohl könnte sich von „seinem Freund“ François Mitterrand einmal erzählen lassen, wieviel er und die französischen Sozialisten der moskautreuen KPF für den Machtgewinn verdanken. Zeitweise saßen die Kommunisten sogar mit am sozialistischen Kabinettstisch, bevor der Spieler und Stratege Mitterrand sie marginalisierte.

(3) In der Bundesrepublik ist immer eine Politik der Mitte betrieben worden, die Ränder, wenn sie groß genug waren, wurden integriert. Immer auf der Wählerebene, nicht selten auch auf höheren Ebenen. Oder wie war das 1969, als der CDU-Kandidat Gerhard Schröder die NPD-Stimmen in der Bundesversammlung nicht verschmähte – nur daß sie damals nicht zum Bundespräsidentenamt reichten? Oder die Integration der SED-treuen Ost-CDU, DBD, LDPD und NDPD in CDU und FDP? Nur nach links soll dieses Gesetz der Republik – die Mitte stark machen und die Ränder integrieren – nicht gelten?

Was würde denn mit der PDS mit integriert? Die PDS ist – wie die CSU – eine Regionalpartei, deren bundespolitische Relevanz sich allein aus ihrer regionalen Verankerung herleitet. Beide haben einen besonderen Charakter als Landes- und Bundespartei. Aus bayerischen Interessen kann man ebensowenig Bundespolitik direkt ableiten wie aus ostdeutschen Interessen. Aber Bayern hat mit der CSU in Bonn eine kräftige Lobby, und Ostdeutschland stünde mit einer Einbeziehung der PDS in Bonn nicht schlechter da als ohne sie.

Der Osten und der Westen driften in der PDS-Frage auseinander. Stolpe und Biedenkopf konnten nur deshalb so stark werden, weil sie sich für viele glaubwürdig mit Ostdeutschland identifizieren. Dem einen hilft dabei seine problematische DDR-Karriere, dem anderen seine Distanz zu Bonn und Kohl. PDS, das ist heute ein Symbol. Auch vielen derer, die sie nicht wählen, erscheint sie als die einzige Protest- und Oppositionspartei Ostdeutschlands. Daß die Wahlbeteiligung im vierten Jahr nach der Vereinigung immer noch und zum Teil deutlich unter der Sechzigprozentmarke bleibt, zeigt, daß die Entfremdung tief sitzt und daß sie auch unabhängig von der PDS wächst.

Es ist noch in einem anderen Sinne alles offen für Bonn. Die Bundestagswahl wird wohl in Ostdeutschland entschieden. Nirgendwo ist die Wählerfluktuation so groß wie dort. Der vergangene Sonntag hat das eindrucksvoll unterstrichen. Diese Offenheit hilft jeder Regierung, die den Eindruck vermittelt, sie habe die Dinge im Griff und sie arbeite gut mit der Wirtschaft zusammen. Personen, Regierungsbonus, Wirtschaftsoptimismus füllen die Lücke eingespielter Parteibindungen. Das hilft Kohl.

Wahlen sind Zuspitzungen. Es gibt zwei politische Lager, eines des Status quo und „weiter so!“, ein anderes von Wandel und Veränderung. Laut Allensbach haben SPD, Bündnisgrüne und PDS zusammengerechnet zur Zeit einen Vorsprung von 0,3 Prozent. Dieses Lager hat nur einen Fehler: Denk- und Selbstblockaden. Hält das an, bleibt es auch bei Reformblockaden.

Der Autor ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Hamburg. Im Wechsel mit Claus Leggewie analysiert er für uns die Wahlen vor dem 16. Oktober in bundespolitischer Perspektive.