Aus der ewigen Pubertät

■ Zwei Einakter von Thomas Jonigk und Wilfried Happel im Kölner Schauspiel

Wer 1994, im Jahr der Familie, ein Theaterstück über die Familie schreibt, schreibt nicht über die Familie im Jahre 1994. Denn nicht Eltern schreiben Theaterstücke, sondern Kinder (erstaunlich alte Kinder). Wer ein Theaterstück über die Familie schreibt, schreibt über die Familie der eigenen Kindheit.

Familie gestern, nicht Familie heute ist das Thema zweier Einakter junger Autoren, die das Kölner Schauspiel unter dem Titel „1994 – Im Jahr der Familie“ zu einem Abend zusammenfaßte, der die neue Spielzeit eröffnete. Familie ist das, was war, der Ort der Archetypen, das Gefängnis, aus dem man sich befreien muß. Beide Autoren, geboren 1965 beziehungsweise 1966, schaffen Distanz durch Projektion in die Vergangenheit. In beiden Stücken tritt neben dem Stammpersonal der Kleinfamilie auch ein Dienstmädchen auf, das in den Sechzigern auch im Bürgertum nicht mehr zum Standard gehörte, sehr wohl aber im Personal der Familienstücke August Strindbergs oder Roger Vitracs. Die Familie von gestern ist auch die Familie der Literatur.

Vergangenheitsbewältigung betreibt am deutlichsten Thomas Jonigk in seinem Erstling mit dem Kitschtitel „Von blutroten Sonnen, die am Himmelszelt sinken“. Im Dialog und in Regieanweisungen wird absurd leerlaufende Familienkommunikation immer wieder auf den Zweiten Weltkrieg und das Dritte Reich bezogen. Die kluge Inszenierung Thirza Brunckens strich sämtliche verbalen und optischen Verweise dieser Art, die dem sprachwitzigen Stückchen einen historisch-politischen Tiefgang geben wollen, den es nicht besitzt. Übrig bleibt dann ein grell überbelichtetes Familienfoto mit arg verzerrten Zügen. Die Handlung besteht aus Monologen, einigen Scheindialogen und Tätlichkeiten – eine Studie über Autorität und Familie, die den Faschismus aus der Unterdrückung der Kinder am Mittagstisch erklärt.

Jonigks Sprache ist immer exaltiert und manchmal witzig. Wenn Mutter uns ihre Jugend erzählt, klingt das zum Beispiel so: „Ich lockte lockig und langte nach Verlangen, aber weil es allen rückhaltlos gefiel, wenn ich auf den Rücken fiel, öffnete ich meinen Unterleib und verordnete mir Orgasmen.“ Jonigk arbeitet mit Überdosen aus der rhetorischen Hausapotheke. Alliterationen, etymologische Figuren und Assonanzen werden zu Aufputschmitteln. Erklärte Vorbilder Jonigks sind dabei Werner Schwab und Elfriede Jelinek. Doch Schwabs verdrehtes Gestammel vermittelte, bevor es zur Routine wurde, mit genialischem Witz die Ausdrucksnot seiner Figuren. Und Jelineks Sprachmontagen legen unterirdische intellektuelle Strömungen frei. Jonigks Kunstsprache ist dagegen kühl kalkuliert und glatt, der treffsicheren Pointe näher als der kunstvollen Arabeske. Zwei weitere Uraufführungen von Stücken Jonigks sind angekündigt (im Schauspiel Bonn und im Wiener Schauspielhaus), bei ihnen muß sich erst zeigen, ob der Jungdramatiker dieser Saison mehr ist als ein komisches Talent.

Wilfried Happel hat auf den ersten Blick das unauffälligere, weniger komische und kunstlosere Stück geschrieben. Seine Sprache ist präzise, aber ohne Schmuck. Doch sein Stück hat eine wirkungsvolle Dramaturgie, die Jonigks immer gleichmäßig prächtigem Sprachfeuerwerk fehlt. Die fast realistische Anfangssituation – zwei Brüder decken die Kaffeetafel für die Muttertagsfeier – entgleitet langsam, aber deutlich in surreale Traumszenen, verliert sich in Wiederholungen, bricht schließlich völlig zusammen und endet in wildem Streit und anarchischer Erotik. Was dem Stück gegenüber seinem Parallelwerk an verbalem Witz fehlt, gleicht es aus durch situative Komik. Was ihm an politischer Dimension mangelt, macht es wett durch verfremdete Psychologie.

Thirza Bruncken, die sich schon in der letzten Spielzeit am selben Ort mit der Uraufführung von Michael Roes' „Cham“ eingehend den Problemen männlicher Identitätsfindung gewidmet hatte, kam offenbar mit Happels Stück besser zurecht als mit dem Jonigks. Während die Regie fast sämtliche szenischen Vorschläge der Druckfassung Jonigks ignorierte, statt der geforderten Dias nur Blasmusik einsetzte, den Schlußauftritt des Teufels strich, eine lustlose Routinekopulation des Vaters mit der Tochter einfügte und die mißhandelte Tochter am Ende einfach das Stück buchstäblich sprengen ließ, kostete sie alle Situationen von Happels Stück mit subtiler Komik und szenischem Klamauk aus. Auch Jens Kilians Bühnenbild, eine grüne Gartenidylle mit echtem Rasen und echten Büschen, konnte seine Mischung aus penibler Realitätstreue und willkürlicher Künstlichkeit erst im zweiten Teil des Abends zur Geltung bringen, als der Muttertagskaffee im Grünen zur Familienorgie und die Buchsbaumhecken plötzlich zu Geschirrschränken wurden.

Daß 28jährige Dramatiker heute mit solchen Familienrevolutionsetüden debütieren, zeigt zum einen, wie lange die Pubertät heute dauert, zum anderen zeigt es die Schwierigkeit, andere als private Themen auf die Bühne zu bringen. Bescheidenheit ziert diese Generation. Happel: „Einen Rundumschlag, das würde ich nicht wagen.“ Jonigk: „Die Welt ist so vielfältig, so kompliziert, wie soll ich da eine Gegenwelt schaffen?“ Bei dem Dramatikerseminar der Bertelsmann-Stiftung 1993, aus dem beide Stücke hervorgegangen sind, präsentierten acht der zehn eingeladenen jungen Autoren Familienstücke. Für sie ist die Familie nicht nur einer der Realitätsbereiche, in dem sie über ausreichend Erfahrung verfügen, sondern auch ein bekanntes Terrain, von dem aus Ausfälle in größere gesellschaftliche Bereiche gewagt werden können. Die Kölner Uraufführungen jedoch zeigten zunächst einmal, wie man private Wut in öffentlichen Witz verwandeln kann. Gerhard Preußer

Thomas Jonigk: „Von blutroten Sonnen, die am Himmelszelt sinken“ / Wilfried Happel: „Das Schamhaar“. Kölner Schauspiel (Schlosserei). Inszenierung: Thirza Bruncken. Bühne und Kostüme: Jens Kilian. Mit Therese Dürrenberger, Heinrich Baumgartner, Jan Schütte. Weitere Vorstellungen: 14., 16., 23., 26., 27. und 30.September