Jakobiner des politisch Korrekten

Der Fall Hans Geißlinger als Beispiel neudeutscher Ethik: Wie die Wissenschaft im Namen der Moral vor dem Zeitgeist kapituliert. Aus dem Wirken der „Ethik-Kommission“ der Deutschen Gesellschaft für Soziologie  ■ Von Niels Werber

Die moralische Vernichtung von Personen erfolgt in jeder Gesellschaft mittels anderer Vorwürfe. Die Bezichtigung, Kommunist zu sein, genügte in der McCarthy-Ära, um Biographien zu zerstören, selbst wenn juristisch festgestellt wurde, daß keinerlei „staatsfeindliche Umtriebe“ vorlagen. Der Vorwurf selbst ist Urteil und Strafe zugleich – nach dem Motto: „Es wird schon etwas dran sein!“

Heutzutage und hierzulande werden Personen am nachhaltigsten mit dem Vorwurf des Mißbrauchs, etwa von Kindern, Macht und Schutzbefohlenen, diskreditiert. Der Mißbrauchsvorwurf ist schwer zu belegen, doch es ist unmöglich, ihm zu entkommen. Denn die betroffene Person ist allein dadurch schon hinreichend diskreditiert, daß die Umwelt ihr diese Taten zutraut. Hans Geißlinger ist vorgeworfen worden, in seinen Rollen als Vater, Pädagoge und Wissenschaftler Mißbrauch begangen zu haben, was seinen Fall zum Exempel macht.

1992 erscheint „Imagination der Wirklichkeit. Experimente zum radikalen Konstruktivismus“ von Hans Geißlinger. Die Dissertation fragt nach den sozialen und kognitiven Bedingungen der Generierung von Realität. Für den sozialen Konstruktivisten ist „die Wirklichkeit“ nicht unabhängig vom Beobachter unveränderlich „gegeben“, sondern sie wird in kommunikativen Prozessen einer Gruppe hergestellt. Unsere Welt, ist unsere Welt. Die Kernfrage lautet: „Unter welchen Bedingungen halten wir etwas für wirklich?“

Um darauf eine Antwort geben zu können, greift Geißlinger auf seine Arbeit bei der Berliner „Story Dealer AG e.V.“ zurück. Der Verein führte seit 1983 sogenannte „Phantastische Reisen“ mit Kindern und Jugendlichen im Auftrag des Bezirksamtes Kreuzberg durch. „Ihr charakteristisches Merkmal ist die Transformation des Erlebens von Alltagswirklichkeit zum Abenteuer. Durch eine spezielle Inszenierung wird die Gruppe dazu gebracht, die sich entwickelnde Geschichte mit ihren Situationen und Ereignissen als tatsächlich, wirklich – echt – zu erfahren.“ Mit einigen initialen Schlüsselsituationen, die das Team organisiert, wird die Gruppenwahrnehmung so verändert, daß künftig auch zufällige, beliebige Ereignisse diese „Wirklichkeit“ bestätigen. So erleben etwa 16jährige Jugendliche eine Art Spionagegeschichte auf einer Segeltour in Holland und halten jede Touristenkamera und jede ausländische Jacht für Überwachungsmittel einer mächtigen Geheimorganisaton. Immer mehr Ereignisse werden „auf den Täuschungsrahmen der Geschichte“ bezogen, und je mehr der Gruppe an „körperlicher und mentaler Aktivität in die Konstituierung ihrer Wirklichkeit investiert“, desto stabiler wird diese „simulierte“ Wirklichkeit. Geißlinger, der als Teammitglied über das Skript dieser stufenweisen Konstruktion einer neuen Realität verfügt, erblickt in diesen insgesamt 32 Reisen rückwirkend einen idealen Forschungsgegenstand. An den Ergebnissen ist nichts sonderlich Überraschendes. Dennoch wird das Buch Epoche machen – als Fall „unethischen Verhaltens“.

Außerrechtliche Raumpatrouille

1993 verschicken die Deutsche Gesellschaft für Soziologie und der Berufsverband Deutscher Soziologen, die etwa 10 Prozent der Soziologen repräsentieren, den ersten Ethik-Kodex des Standes an seine Mitglieder. 1994 präsentiert Siegfried Lammek, Vorsitzender der Ethik-Kommission, die ersten fünf Fälle der „Konfliktregelung im außerrechtlichen Raum“. „Fall I“ ist Geißlingers Dissertation, „in der Minderjährige die Probanden abgeben“. Ihnen wurde „eine fiktive Realität vorgetäuscht, ohne sie über das Experiment und die Fiktion nachträglich aufzuklären, was nach massenmedialen Berichten teilweise zu psychischen und psychosomatischen Krankheitssymptomen führte.“ Die Kommission stellt fest, „daß in mehrfacher Weise“ gegen den Ehren-Kodex verstoßen wurde“, sogar in „schwerwiegender Weise“ gegen die Paragraphen I. B. 3, 4 und 5. Diese Absätze betreffen die „Rechte der Untersuchten“ und fordern „das Prinzip der informierten Einwilligung“ für die Beteiligten; die Probanden dürfen „durch die Forschung keinen Nachteilen oder Gefahren ausgesetzt werden“, deren Risiko das „im Alltag übliche“ Maß überschreitet. Die Experimente des Doktoranden hätten ohne vorhergehende Einwilligung der Kinder, ohne nachträgliche Information stattgefunden und den „erwart- und antizipierbaren Nachteil der Untersuchten“ ignoriert. Nach dem „formaljuristischen“ Grundsatz nulla poena sine lege wären allerdings „keinen Sanktionen möglich“.

Der durchgehend juridische Jargon der Ethik-Kommission kann nicht verdecken, daß Ähnlichkeiten mit „rechtsstaatlichen Grundsätzen“ nur zufällig sind. Dem Leser wird suggeriert, man hätte zunächst „eine bilaterale, einvernehmliche Regelung zwischen den Beteiligten“ angestrebt, nach deren Scheitern die Kommission „ermittelnd und tatbestandsfeststellend tätig“ geworden sei. Doch wurde die inkriminierte Dissertation nicht der „Beratung“ des Falls zugrunde gelegt, ihr Verfasser wurde von dem gegen ihn anhängigen „Verfahren“ weder informiert, noch wurde er gar befragt. Der „Kläger“ verbleibt anonym, so daß die schöne Frage cui bono? nicht beantwortet werden kann. Das Verfahren beginnt also mit einer namenlosen Denunziation, während der Verfasser der Dissertation von jedem identifiziert werden kann, der den Verlagsprospekt des Campus-Verlages durchblättert. Das ist durchaus beabsichtigt. Denn allein „die Tatsache, daß Fälle unethischen Handelns jährlich in den Verbandszeitschriften publiziert werden, sollte [...] die Entdeckungswahrscheinlichkeit und damit auch die Sanktionswahrscheinlichkeit erhöhen.“ Die Publikation des Falles ist zugleich die Strafe, denn Hans Geißlinger kann leicht als angeblich überführter Schuldiger identifiziert und von der scientific community künftig entsprechend behandelt werden.

Was die Medien alles wissen ...

Die Vorwürfe sind grundlos. Geißlinger betont mehrfach, daß die Reisen Experimente ex post seien, da sie nicht als soziologisches Labor intendiert gewesen sind und er erst mehrere Jahre nach der ersten Reise der „Story Dealer“ die Perspektive des Gruppenbetreuers mit der des Soziologen vertauscht hat. Seine Kenntnisse werden erst im nachhinein soziologisch betrachtet, die Kinder erst rückwirkend zu „Untersuchten“. Der Vorwurf der Kommission setzt voraus, Geißlinger habe sich perfide schon 1980 zum Dissertationsmißbrauch entschlossen. Die Behauptung physischer oder psychischer „Schädigungen“ hat einer gerichtlichen Überprüfung nicht standgehalten. Doch schien es dem Tribunal nie um eine seriöse Prüfung des „Falls“ gegangen zu sein, sondern um die Exekution einer neuen Moral.

Daher reichte in der „Urteilsbegründung“ der Verweis auf massenmediale Berichte. Sat.1 brachte eine „Dokumentation“ über die „Story Dealer“, in der die „Phantastischen Reisen“ als Horrortrips dargestellt wurden. Die fiktiven Wirklichkeiten seien faschistoide Quälereien gewesen, die zu Alpträumen und Angstzuständen geführt hätten. Der Vorwurf, Kinder seien auch sexuell mißbraucht worden, rundet das mediale Schreckensszenario ab.

Die Regenbogenpresse steigt mit gewohnt engagiertem Interesse an der „Aufklärung“ solcher Ungeheuerlichkeiten ein: „Enthüllt“ wird eine zehnjährige Tragödie von „Mißhandlung, Hinführung zum Sektentum, Machtmißbrauch und Einschüchterung“. Das Konzept der Reisen sei die „sadistische“ Umsetzung von „Allmachtsphantasien von Erwachsenen“. Nach zwölf Jahren Arbeit zur Zufriedenheit von Kindern, Eltern und Behörden wird den „Story Dealern“ das Mißtrauen ausgesprochen. Ein Leserbrief behauptet, „Geißlinger & Co“ hätten die „Kindergruppe vollkommen gleichgeschaltet“, um eine „mit über 1.000 Probanden empirisch bestens abgesicherte Dissertation“ schreiben zu können. Die Ethik- Kommissare müssen nur noch zugreifen.

Warum aber kam es zum diesem Umschlag in der Bewertung der „Story Dealer“? Wie wird innerhalb kurzer Zeit aus „beispielhafter Pädagogik“ ein Fall von „Kindesmißbrauch“? 1991 wird Hans Geißlinger von seiner ehemaligen Lebensgefährtin vorgeworfen, seinen dreijährigen Sohn sexuell mißbraucht zu haben. Ein Vorwurf mit Folgen, obgleich er nie rechtsförmig erhärtet wird, sondern im Gegenteil Gutachter bestätigen, daß der Junge niemals mißbraucht worden ist. Geißlinger sieht ihn dennoch nicht wieder.

Und ewig rauscht die Dunkelziffer

Die Berliner Zeitschrift Tip fragt am 22. 10. 92 kritisch nach dem Mißbrauch mit dem Mißbrauch und macht den Fall Geißlinger publik. Abgedruckt wird ebenfalls ein Telefongespräch der „Story Dealer“ mit dem Verein für mißbrauchte Mädchen „Wildwasser“, das belegt, wie leichtfertig ein Mißbrauchsvorwurf erhoben und bestätigt werden kann. Ohnehin ist jeder Vorwurf plausibel, denn bei einer „Dunkelziffer“ von 300.000 bis 1.200.000 mißbrauchten Kindern und nur 10.000 bekannten Fällen fehlen ja schließlich Hunderttausende von Opfern und Tätern. Wer diese Dunkelziffern für „real“ hält, wird eher dem Mißbrauchsvorwurf Glauben schenken als der Unschuldsbeteuerung. Die Erwartungen bestätigen sich selbst. Die fiktive Realität steht.

Der Vorwurf gegen Geißlinger eskaliert. Wer seinen Sohn mißbraucht, kann als Leiter von Kinderfreizeiten kaum taugen. Die „Story Dealer“ geraten unter Verdacht. Nur drei Wochen nach dem Tip-Artikel widmet sich eine „Kinderschutzkonferenz“ den „Phantastischen Reisen“ und entdeckt allüberall mißbrauchte Kinder. Im Dezember heißt es bereits: „Der stark manipulierende Charakter (der Reisen) birgt [...] geradezu ideale Bedingungen für pädophil veranlagte Teamer.“ Aus dem widerlegten Vorwurf des Kindesmißbrauchs gegen Geißlinger ist innerhalb zweier Monate die Bezichtigung der „Story Dealer“ geworden. Sat.1 kann dann mit der „Aufklärung“ des Falles beginnen und die „Ethik-Kommission“ die bösartige Medienkampagne pseudorechtlich absegnen.

Eine abgedichtete Wirklichkeit

Geißlingers These, daß eine simulierte Wirklichkeit in Relation zum investierten kognitiven und sozialen Kapital an Stabilität gewinnt, wird von dieser medialen Eskalationsspirale exakt bestätigt. Eine erregte Öffentlichkeit wartet auf Anschuldigungen, die die Dunkelziffer „weißen“; „Experten“ für Mißbrauch und für Ethik benötigen Fälle zur Legitimation der eigenen Existenz. Die vom Erstvorwurf initiierte Wirklichkeit dichtet sich zunehmend gegen Interventionen von außen ab – Gutachten, einstweilige Verfügungen, erfolgreich erzwungene Gegendarstellungen, anders lautende Zeugenaussagen: sie ändern nichts am Glauben an den Mißbrauch. Dies macht diesen Vorwurf im aktuellen Klima so gefährlich: er ist unwiderlegbar und ignoriert rechtsstaatliche Selbstverständlichkeiten. Der Fall Geißlinger wird damit zur deutschen Variante einer falsch verstandenen political correctness.

Die Gemeinsamkeit der neudeutschen Ethik mit der amerikanischen political correctness liegt im Unterlaufen von Politik und Recht mit moralischen Strategien. Im Gegensatz allerdings zur Strategie der affirmative action, bei der es um die Durchsetzung von bereits bestehenden Minderheitenrechten geht, ist „politisch inkorrektes“ Verhalten keine Sache des Gesetzgebers und der Gerichte, sondern einer Öffentlichkeit, die „inkorrekte“ Personen mit Achtungsentzug ächtet. Gegen die moralische Verurteilung kann sich der „Angeklagte“ nicht wehren; im Gegensatz zum Rechtssystem sind Freisprüche oder Berufungsverfahren nicht vorgesehen.

Damit ist freilich nichts darüber gesagt, daß diese Vorwürfe nicht auch die Richtigen treffen könnten, sondern nur etwas über den Verfahrenstyp einer neuen Moral. Ihre Erfolge, wenn sie denn welche hat, sind teuer erkauft.