Die Bekenntnisse eines Präsidenten

François Mitterrand stellt sich einem Interview im Fernsehen / Trotz Krankheit kein Rücktritt / Buch über seine Rolle während des Vichy-Regimes hatte für Aufsehen gesorgt  ■ Aus Paris Dorothea Hahn

Ein Präsident tritt vor sein Volk. Sein Gesicht ist bleich, durch die wächserne, brüchige Haut scheinen die Knochen, seine Stimme ist leise. François Mitterrand hat Krebs. Im Juli wurde er zum zweiten Mal operiert. Seither wollen die Gerüchte über einen fatalen Verlauf der Krankheit nicht mehr verstummen, täglich erscheinen Details über die Prostata des 78jährigen.

François Mitterrand sagt, daß ihm so viel Aufmerksamkeit schmeichelt. Am Montag abend stellt er sich anderthalb Stunden lang dem französischen Fernsehen. Neben seinem Gesundheitszustand soll er, der 1981 als erster Sozialist die Spitze Frankreichs erklomm, erklären, welche Rolle er in den 40er Jahren während des Vichy-Regimes spielte und warum er französischen Antisemiten, wie dem einstigen Polizeichef und für die Juden-Deportation verantwortlichen René Bousquet, jahrzehntelang die Treue hielt. Ein Anfang des Monats erschienenes Buch mit Enthüllungen über die Jugend des Präsidenten 1 hatte Verwirrung ausgelöst. „Es gibt keine störenden Fragen“, sagte der Präsident dem Journalisten Jean- Pierre Elkabbach, „ich habe nichts zu verbergen.“

Die Krankheit ist für Mitterrand schnell abgehandelt. Über sein Leiden – „weniger schlimm als das anderer Krebskranker“ – will er nicht sprechen. „Ich kämpfe“, sagt er, „und ich tue das, um zu siegen“. Einen Rücktritt hat er „noch nie“ erwogen. Schließlich haben die Franzosen ihn zweimal für je sieben Jahre gewählt und seine zweite – und letzte – Amtszeit endet erst im Mai 1995.

Mehr Raum gibt er seiner Karriere. Mitterrand ist stolz auf seinen politischen Weg, der ihn von rechts nach links führte. Seine Stimme wird kräftiger, er lächelt, bewegt die zuvor auf dem Tisch gefalteten Hände. Er spricht über das „kleinbürgerliche, moderate, katholische, patriotische“ Milieu, aus dem er stammt. Darüber, daß er „nie empfänglich für Rassismus war“. An eine Teilnahme an einer fremdenfeindlichen Demonstration im Paris der 30er Jahre, wie sie in dem Buch mit Foto dokumentiert ist, kann Mitterrand sich nicht erinnert. Statt dessen beschreibt er ausführlich Begegnungen mit jüdischen Freunden. Geradezu liebevoll charakterisiert er den Marschall Philippe Pétain als „Greis, der von vielen extrem Rechten und von vielen makellosen Patrioten umgeben war“.

Auch Mitterrand arbeitete nach seiner Flucht aus deutscher Gefangenschaft im Umfeld des Marschalls, der 1940 die französische Kapitulation unterzeichnet hatte. Der 26jährige Mitterrand betreute französische Kriegsgefangene, gleichzeitig nahm er Kontakte zum Untergrund auf, dem er sich 1943 anschloß. Er erinnert sich an ein „fesselndes Leben“. Von der antisemitischen Gesetzgebung des Vichy-Regimes, das einen Numerus clausus für Juden einführte und ihnen Berufsverbot im öffentlichen Dienst erteilte, will er nichts gewußt haben. Den „Ariernachweis“, den alle Vichy-Mitarbeiter unterzeichnen mußten, erwähnt er nicht. Auch von der Existenz der KZs will er „wie die meisten Franzosen“ erst nach der Befreiung 1944 gehört haben.

„Im wesentlichen“ sei das Vichy-Regime zu verurteilen, sagt Mitterrand. Den Antisemitismus nennt er ein Verbrechen. Die französische Republik jedoch, die fünfte, diejenige, deren Präsident er heute ist, habe damit „nichts zu tun“. Mitterrand hat beinahe zu seiner alten Form zurückgefunden, als er dem Journalisten laut und energisch ein „Nein“ entgegenschleudert. „Nein, dafür sind Minderheiten verantwortlich.“ Wie all seine Amtsvorgänger legt Mitterrand damit wieder die berühmte Klammer um das Regime von Vichy. Eine Entschuldigung für die Verbrechen von Vichy kommt nicht in Frage.

Eine Erklärung hat der Präsident auch für seine Beziehung zum dem Vichy-Polizeichef Bousquet, der die Deportation von Tausenden von Juden aus Frankreich organisierte. „Bousquet wurde 1949 rechtskräftig freigesprochen“, sagt Mitterrand, „er war ein angesehener Mann in Paris, mit dem viele ein Beziehung unterhielten“. Erst 1986, nachdem die Angehörigen der Holocaust-Opfer nicht mehr übersehbare Beweise für Bousquets Verantwortung geliefert hatten, brach er den Kontakt ab. Doch ein Verfahren gegen Bousquet wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit hätte er auch danach noch für schädlich gehalten.

Bousquet ist im vergangenen Jahr auf offener Straße in Paris erschossen worden, und damit der Justiz entgangen. Mitterrand sagt heute, daß mit einem Angeklagten Bousquet ein einzelner für die „nationale Schuld“ hätte büßen müssen. Sein Ziel und seine Aufgabe als Präsident sei es aber, den „Bürgerkrieg der Franzosen zu beenden“. Ein Streben, fügt er hinzu, das er mit seinen Amtsvorgängern, die die Generäle aus dem Algerienkrieg begnadigten, teilt.

Das Fernsehgeständnis des Präsidenten endet mit dem Satz Mitterrands: „Mein Gewissen ist ruhig.“ Am Morgen danach überwiegen erleichterte Reaktionen. „Er hat alle Fragen beantwortet“, sagt ein prominenter Sozialist. Politische Konsequenzen fordert niemand.

1 Pierre Pean: „Une jeunesse francaise, Fayard“, Paris, 616 Seiten