Ein kleines Schälchen Marinade

Jede Szene ein appetitlicher Kulturschock: Ein kleines Meisterwerk der unreinen Art ist „Eat Drink Man Woman“, der neue Film von Ang Lee, dem Regisseur des „Hochzeitsbanketts“. Hungrige müssen leider draußen bleiben  ■ Von Christiane Peitz

Das Wunder dauert nur wenige Minuten. Eben noch schwamm der Fisch im Becken, die Hühner gackerten im Verschlag, und die Frösche drängelten sich auf der Küchenspüle. Jetzt ist davon nur ein Hauch von Fleisch übrig und eine Ahnung von Fisch, ein Bissen Pastete, ein Schälchen Marinade, lauter erlesene Köstlichkeiten. Was dazwischen geschah, läßt sich nicht beschreiben. Zwar könnte man nacherzählen, wie da kleingehackt und blanchiert, gebraten, gedünstet, fritiert, geknetet, tranchiert, gewürzt und flambiert wird. Man könnte Woks und Pfannen, Feuer-, Dampf- und Schmortöpfe auflisten und berichten, wie Fonds eingekocht, Fische geschuppt, Enten aufgeblasen werden, wie mit heißen Tüchern, Basteinsätzen und Räuchertonne hantiert wird, wie das Messer blitzschnell das Gemüse schneidet, präzise und behutsam, als wolle es nicht zerstückeln, sondern heilen.

Vielleicht bekäme der Leser sogar eine Vorstellung vom Meisterkoch Chu, wie er zwischen Garten und Küche, dampfenden Töpfen und vorgewärmten Schüsseln hin- und herhastet, von seinen routinierten Handgriffen und der sekundengenauen Arbeitsorganisation. Vielleicht würde ihm sogar das Wasser im Mund zusammenlaufen. Aber dennoch bekäme er bestenfalls Lust auf das Essen und keine Ehrfurcht vor dem Werk. Denn Wu versieht kein Handwerk, er schafft Kunst. Allein um die Ingredienzien seiner Speisen zu beschreiben, fehlen mir die Vokabeln. Wer vor diesem Filmanfang nicht zum Analphabeten wird, der sollte den Beruf wechseln und Küchenchef werden.

Chu bereitet das traditionelle Sonntagsessen für seine drei Töchter zu – was im Film keine zehn Minuten dauert, wird ihn wohl ein, zwei Tage kosten. Die Töchter nippen daran und verziehen das Gesicht. Ein Todesurteil. Wu kann längst nicht mehr schmecken; das Ergebnis seiner Kochkunst liest er an den Mienen derer ab, die kosten. Dann packen die Töchter den Rest in den Kühlschrank. Man nimmt es ihnen nicht einmal übel. Noch kennen wir sie kaum, aber schon sitzen wir zwischen den Stühlen. Wir bangen mit Chu um sein Sonntagsmenü und sehnen uns mit seinen Töchtern nichts wie weg, zum Beispiel in das Verkehrschaos auf den Straßen Taipehs, deren Hektik Ang Lee in Zeitlupe dehnt. Die Masse Mensch als Meditation. Allein was die Organisation der Zeit betrifft, veranstaltet Ang Lee ein Verwirrspiel. Was die Kulturen angeht, irritiert er erst recht.

Wenn sein „Hochzeitsbankett“ Helden im Zwiespalt zeigte – zwischen taiwanesischer Tradition und American way of life –, dann sind die Protagonisten von „Eat Drink Man Woman“ multiple Persönlichkeiten. Die älteste Tochter lehrt Physik, gilt als verhärmte Jungfer und fromme Christin – bis sie per Schulmegaphon den Mann ihres Lebens herbeizitiert und den ungeschicktesten Kuß der Filmgeschichte fabriziert; es ist Liebe auf den ersten Blick. Die schönste Tochter hockt als Karrierefrau nächtens am Computer, geht mit dem Exmann fremd, verkörpert die Emanzipation – und kann so gut kochen wie der Vater. Die Jüngste jobt ausgerechnet im Fast- food-Restaurant, verheimlicht eine Liaison mit dem Freund ihrer Freundin – und bekommt ein Kind. Großküche und Galadiners, Motorradlärm und Kirchenchöre, Computerspiele und Haifischflossensuppe, Beethovens Neunte auf taiwanesisch: Multikulti ist gar kein Ausdruck.

Ang Lee ist ein Meister der unreinen Mischung. Jede Szene ein Kulturschock. „Jede Familie verdankt ihre Existenz dem Sex, aber gerade über dieses Thema zu sprechen stellt sie meist vor die größten Probleme. Was die Kinder am sehnlichsten hören wollen, ist in der Regel das, was die Eltern am schwersten über die Lippen bringen. In einer solchen Situation verlegen wir uns auf Rituale“, sagt Ang Lee. Jeder ist anders, als er scheint. Die Familientradition des Sonntagsmenüs wird von allen gehaßt, aber dennoch gewahrt. Ebenso wird das Image von Chu und seinen Töchtern gepflegt wie ein Ritual. Chu, der Witwer und Rentier, darf bloß noch das Schulessen für Nachbars Töchterchen zubereiten, dabei kann er immer noch ein Hochzeitsbankett für den Sohn des Gouverneurs ausrichten und hat längst eine junge Geliebte. Jia Chien, die Geschäftsfrau, träumt vom Küchenherd. Und Jia Jen, die Jungfer, hat ihre unglückliche Jugendliebe aus dramaturgischen Gründen erfunden. Das Leben, ein Maskenspiel. Man trifft sich zum Essen, stochert darin herum, will sich erklären und rettet sich in Ausflüchte. Noch nie gab es einen Film, der so viele Speisen auftischt, die so wenig angerührt werden. Unentwegt vergeht einem der Appetit. Erst ganz am Schluß ist die Familienbande mit Wucht zerrissen und das Lügengespinst zerstoben. Ein Sonntagsessen findet nicht statt.

Ich kenne kein traurigeres Happy-End als das von „Eat Drink Man Woman“. Erst die Enttäuschung ermöglicht das Glück. Die Wahrheit wird beiseite gesprochen. Beim Abwasch. Oder auf dem Dienstbotenflur. Wu und sein bester Freund torkeln nach überstandenem Hochzeitsbankett Richtung Ausgang. Eat Drink Man Woman, sagt der eine. Essen und Sex. Menschliche Grundbedürfnisse. Es geht nicht ohne. Wir leben noch, Gott sei Dank. Zwei betrunkene Alte, von hinten im Halbdunkel. Kein berückendes Bild, bloß ein schäbiger Augenblick. Gourmets werden ihn verpassen.

„Eat Drink Man Woman“, Regie: Ang Lee. Mit Shihung Lung, Kuei- Mei Yang, Chien-Lien Wu, Yu- Wen Wang, Taiwan/USA 1994, 123 Min.