Keine vier Stunden Musik

■ Pierre Boulez dirigierte den Webern-Zyklus im Rahmen der Berliner Festwochen

Anton Weberns Werke waren kurz. Die miniaturisierte Form gehörte zu den auffälligsten Merkmalen seines Komponierens, das sich gegen schwüle Spätromantik und Fin-de-Siècle-Pathos richtete. Webern suchte den asketischen Ausdruck, der sich ab 1924 um Schönbergs Zwölftonverfahren erweiterte. Trotzdem blieb er der Aphoristiker unter den Komponisten der ersten Jahrhunderthälfte – einem Karl Kraus ähnlich, dessen satirisches Sprachgefühl sich auch beim Musiker wiederfand. „Abgründe dort zu sehen, wo Gemeinplätze sind“ war der Titel einer Vortragsreihe Weberns. Immer in Geldnöten, hat der Schönberg- Schüler neben seinen diversen, meist erbärmlichen Anstellungen als Chordirigent und Kapellmeister von Kur- und Operettenorchestern in Bad Ischl, Teplitz, Danzig, Stettin und Prag für ein Zubrot immer auch Volksbildung betrieben, zuletzt beim „Wiener Bildungszentrum der Sozialdemokratischen Partei“. Erst seine Anstellung als Dirigent und Berater beim Wiener Rundfunk 1927 sicherte ihm die Existenz und gestattete ihm in seinen letzten Lebensjahren relativ unbeschwertes Komponieren. 1945 wurde er, erst 52jährig, von einem schießwütigen amerikanischen Soldaten in einer nie ganz geklärten erschossen. Sein Werk blieb beschränkt auf 31 Opuszahlen, die ihm gleichwohl den Rang einer Kultfigur der jungen Komponistengeneration sicherten. Zusammengerechnet keine vier Stunden Musik.

Tatsächlich läßt sich sein veröffentlichtes ×uvre auf drei CDs unterbringen. Pierre Boulez hat es bereits Ende der sechziger Jahre meisterhaft für die Nachwelt eingespielt. Daß er bei den diesjährigen „Berliner Festwochen“ die Interpretation einiger der zentralen Stücke des elfteiligen Zyklus „Webern &“ übernimmt, die neben der Berthold-Goldschmidt- Ehrung im Zentrum der Festivitäten steht, scheint nur konsequent. Pierre Boulez, scharfsichtiger Musikphilosoph, Lehrer und erbarmungslos genauer Dirigent, gilt als Messiaen-Schüler und Komponist selber als ein Wortführer der Neuen Musik. Geschult an Schönbergs Reihentechnik, Strawinskys Rhythmik, Debussys Klangsensibilität und immer auf genaue Form bedacht, ist er ohne Zweifel einer der authentischsten Interpreten Anton Weberns. Boulez zeichnet denn auch für den Löwenanteil des Webern-Programms verantwortlich, den er in drei der Webern- Konzerte dirigiert.

Wie leicht man an der Interpretation schon der Webernschen Bearbeitung der Bachschen Fuga (Ricercata) aus dem „Musikalischen Opfer“, die Webern genial orchestrierte, scheitern kann, indem man sie romantisiert und in die Breite zieht, demonstrierte Vladimir Ashkenazy im dritten Webern-Konzert des Festwochenprogramms. Michael Schønwandt und das Berliner Sinfonie-Orchester präsentierten die Idylle für großes Orchester „Sommerwind“ aus dem Jahre 1904 geradezu als Strauss-Nachklang. Nach zwei Kammer- und zwei Orchesterkonzerten wird nun dem Präzisionsfanatiker Pierre Boulez die philharmonische Bühne übergeben und zur Halbzeit des Webernzyklus die Pauke geschlagen: eine ganze Stunde Webern am Stück. Ein harter Brocken für das Festwochen- Publikum, zumal darunter eines der sprödesten Werke Weberns ist: die Symphonie Nr. 21 aus dem Jahre 1928. Mit der Passacaglia für großes Orchester Opus 1, die Boulez sehr transparent mit Blick auf die Strukturen spielen ließ, ohne den innewohnenden Wiener Tonfall zu verdecken (und den scharf interpretierten „Sechs Stücken für großes Orchester“ Opus 6 sowie den „Fünf Sätzen“ Opus 5 in der Orchesterfassung von 1928/29), hat Boulez sich aber auch die schönsten Stücke aus dem Hauptwerk Weberns ausgesucht. Wie er diese nicht eben leicht verdaulichen Klangreihen des Webern-Marathons mit dem hervorragend zuarbeitenden Berliner Philharmonischen Orchester bewältigte und sogar noch in Beziehung zu Debussys impressionistischen „Trois Nocturnes“ und den drei sinfonischen Skizzen „La Mer“ setzte, macht ihm so leicht keiner nach. Dieter David Scholz

Pierre Boulez wird noch am 27.9. im Berliner Kammermusiksaal und am 28./29.9 in der Philharmonie Webern-Abende dirigieren.