Rare Vegel in Bayern

„Oisam zam“: Was verbirgt sich hinterm Gstanzl vom Weiß Ferdl? Einführung in eine Geheimwissenschaft  ■ Von Willi Winkler

Als meine Freundin Sabine noch am Anfang ihres Ethnologie- Studiums stand und ansonsten davon lebte, daß sie am Wochenende dreimal täglich einen Bus voll Japaner, Amerikaner und Diverser dreisprachig über die folkloristischen Reize der Landeshauptstadt München aufklärte, nahm sie mich auch einmal mit an diese touristischen Reizpunkte. Gegen 23 Uhr wurde ein besonders sakraler Ort angelaufen: nicht etwa das Hofbräuhaus, sondern ihren ersten Höhepunkt erreichte die Stadtrundfahrt „Munich by Night“ (DM 99,- incl., Kinder unter 10 Jahre 59,-) genau gegenüber im Platzl.

Eilends wurde man zu Leberkäs mit Spiegelei hineingeschaufelt und von irgendwelchen alpenländischen oder Tegernseer Gaudiburschen und Blechmusikern landläufig unterhalten, damit das Bier (nicht incl. und gleich als ganze Maß) besser schmeckte. Schließlich kam eine kräftige Peroxydblonde mit auf die Bühne, trat an einen nicht sehr hochgelegten Tisch voller Kuhglocken und begann, diese nach einer ziemlich geläufigen Melodie aufzunehmen, heftig zu scheppern und sie wieder abzusetzen. Daß ihr Dirndl beim Bücken nachgab und die nächstliegende Assoziation freigab, gehörte zum Programm und freute die Busgesellschaft ungemein. Die Blonde verbeugte sich geschmeichelt und tief, und wieder tobte die Blechmusik durch einen Marsch.

Dankbar nahmen's die Japaner, die Amerikaner und die anderen mit nach Hause. So ist das mit Bayern. Auf dieser Bühne im Platzl gegenüber vom Hofbräuhaus sind früher einmal – auch wenn man sich das im ganzjährigen Bayern- by-Night-and-Day-Schlußverkauf nicht mehr vorstellen kann – echte Volkssänger aufgetreten, Girlanden weiß und blau von links nach rechts, auch sie von der Blasmusik begleitet, vom Bombardon, der Trompete und der Klarinette. So blieb ihnen der Refrain erspart; weil den die Kapelle abrahmen durfte. Der Sänger konnte sich, wie's früher noch manchmal Zwang, schnell seine nächsten Verse zurechtdichten. Es waren nie Gassenhauer oder, wie man sagte: Schlager, was die Sänger da vortrugen, sondern Gstanzl, bei Nestroy und Jacques Offenbach Couplets genannt; man mußte schon genau hinhören.

Die Volkssänger konnten den Leuten drunten was erzählen davon, wie schön's war in der guten alten Prinzregentenzeit oder auf dem Dorf beim Maitanz. Oder auch von der rauchenden Gegenwart, daß jetzt der Krieg aus sei (1918), Revolution gemacht werde (1918/19) oder Inflation (1923). Sogar 1933 durften sich die Stars vom Platzl noch eine Zeitlang unfreundliche Bemerkungen über Zustände in Volk und Reich erlauben, weil im Zweifel eh die Blasmusik hinterdreindröhnte, die Bühne weißblau ausgeflaggt war und der Weiß Ferdl wenigstens einen sauberen Trachtenhut trug.

Ferdinand Weisheitinger aus Altötting lernte als Knabe in Salzburg auf Opernsänger, aber daraus wurde zum Glück nichts. Erst ging er 1914 an die Weltkriegsfront Wehrkraft ertüchtigen, dann verwöhnte er in München das Publikum mit seinem immerwährenden Lobpreis Bayerns. An der neuen Republik schätzte er am meisten, daß man jetzt endlich wieder das so romantische wie subversive König- Ludwig-Lied zum Vortrag bringen durfte. Aber er konnte auch ziemlich giftig und bösartig werden: „I woaß ned, wia mar ist/ i bin ned grank, i bin ned gsund/ i hob an Grant und woas koan Grund ... Soid i an Schwarzn woin odar an Kommunist/ oda fahr i an dem Dog liaba Mist?“ Der berühmteste Volkssänger war Karl Valentin aus der Au, der damaligen Kutscher- und Beherberger-Vorstadt in München. Als „Musicalclown“ zog er nach einer Schreinerlehre mit einer Musikmaschine wenig erfolgreich durch ganz Deutschland, bis er mit seinem Programm, mit Karl Valentin singt Karl Valentin und spielt dazu, in München mehr oder weniger fest engagiert auftreten konnte.

Die Tourneejahre, auch das unbestimmte Berufsbild sorgten dafür, daß Valentin wie die anderen Volkssänger eine musikalische Ausbildung genossen hatte, dazu noch als Vortragskünstler, Moritatensänger und Orchesterchef wirkte. Tucholsky, Hesse, ein wenig verschämt sogar Beckett, alle haben ihn gelobt. Brecht war stolz darauf, mit Valentin und seiner angestellten Soubrette Liesl Karlstadt auf dem Oktoberfest auftreten zu dürfen. Obwohl er sich nach der bayrischen Revolution kaum mehr zur Tagespolitik äußerte, bekam er nach der Machtergreifung nur noch selten Aufträge. Sein krumm-und-buckliger Humor eignete sich nicht so recht für Kraft durch Freude, also wurde er abgesetzt: der Erfinder selbst und erst recht sein schepser Begriff von Humor. In einem Brief beklagte sich Valentin 1939 über die neueste Zeit: „Ich will hier nicht witzig werden, ich meine ja nur.“

Valentin, Liesl Karlstadt und Weiß Ferdl sind nur die bekanntesten Namen auf einer ziemlich gewagten Edition der Firma Trikont. In einer Serie, die englisch-rundfunkdeutsch „Rare Schellacks“ heißt, werden auf vier CDs Volksmusik und Volkssänger im Alpenvorland in Aufnahmen von 1902 bis 1948 vorgestellt. Die Tonqualität ist, um das Mindeste zu sagen, rauschstark, das aber bei gutem Transistorraumklang. Wer immer noch meint, das Bayrische sei nur eine ungrammatische oder gar analphabetische Variation des Schriftdeutschen, der soll mir ein besseres onomatopoetisches Gedicht zeigen als die Schlierseer Gstanzl von Hans Blädl und Robert Lang: „Schliersee, des is hoid a Platzal, a Platzal/ Schliersee des is hoid a Plotz/ do kemman d'Vegel oisam zam, oisam zam, oisam zam/ do kemman d'Vegel oisam zam und da Spotz a“ (die linguistische Feinanalyse wirft allein in diesen vier Zeilen sechs [in Zahlen 6!] Formen des Vokals „A“ aus – dem folgt logisch bayrischer Gesang).

Je näher man den nördlichen Kalkalpen kommt und den sündenfreien Almen, desto schwermütiger wird die Musik. Als Kostprobe aus dem Oberland genügt der Klarinettenlandler von 1927, wo die Tuba sich tanzbärig von der Klarinette führen und herumschwenken läßt. Der verläßlich finstre Humor, dieses Hinterfotzige, das genüßliche Derblecken auch des Publikums, von dem diese Texte leben, findet sich wieder in den seltsam gebundenen musikalischen Formen, im Zwiefachen, im Landler, in einer Polka, die man garantiert nicht ordentlich tanzen kann. Mühsam nur wirkt eine Amokläufergewalttätigkeit unterdrückt in dieser vorgeblich so schlichten Musik, ein ewiges Stop- and-go, aber regelmäßig. Vielleicht verhindert das sichernde Taktauszählen ja auch wirklich, daß jetzt gleich sofort bei den kniebundbehosten Burschen die Brutalität ausbricht, sie sich mit Stuhlbeinen bedrohen oder die angebrochenen Maßkrüge über den Schädel klopfen.

Grad zünftig wird's demnächst wieder zugehen auf dem Oktoberfest. Die Blaskapellen, mit denen die Festzelte auftrumpfen, brauchen gar nicht zu üben, sie kennen ihre Marschmusik und stoßen routiniert ins Blech. Je lauter, desto besser, dann werden die Leute drunten vom Schreien recht durstig. Wenn der bayrische Ministerpräsident vorbeischaut – ist ja wieder Wahlkampf in Bayern –, den Trachtenhut (oder was man heute dafür hält) aufsetzt, den Taktstock in die Hand nimmt, dann folgt ihm die Musik lammfromm in den Bayerischen Defiliermarsch. Diese Art der Deppenmusik finden vornehmlich die erwähnten Japaner, Amerikaner und Diverse lustig, aber sie hat überhaupt schon gar nichts mit dem Liedgut zu tun, das hier gesammelt wurde. Fünfzig bis neunzig Jahre nach dem Vortrags- und Aufnahmedatum ist diese alpenländische Volkskunst zu einer rechten Geheimwissenschaft geworden. Selbst im beigefügten Textheft dieser wunderbaren Edition hatten sogar die Sammler manchmal Mühe, den Text der Schnaderhüpferl richtig zu transkribieren. Wenn der Weiß Ferdl mit seinen Couplets „Übaschen Übaschen“ loslegt, jedes für sich eine Geschichte, und mit jedem letzten Wort das nächste einleitet, dürften noch mehr überfordert sein. „Aber nicht wahr, meine Hörer“, verfällt Karl Holl in seinen Gstanzln zum Schluß ins Hochdeutsche, „so kanns oftmois geh. Sie hören mich da singen, aber Sie können nix verstehn.“

Rare Schellacks 1902-1948, Trikont; CD (neben Aufnahmen aus München und Bayern sind auch Editionen aus Oberösterreich- Salzburg und Wien erschienen).