Unsere Kühe, eure Busse ...

In den Flüchtlingslagern bei Goma leidet die Arbeit der Hilfsorganisationen unter dem Kleinkrieg zwischen Schutzsuchenden aus Ruanda, lokaler Bevölkerung und marodierenden Militärs  ■ Aus Goma Michael Rediske

Dem Krieg folgt der tägliche Kleinkrieg im Exil. Goma und seine Umgebung – das sind mindestens 600.000 Flüchtlinge, dicht gedrängt, vermischt mit den Resten der geschlagenen ruandischen Armee, die sich mit ihren Waffen über die Grenze gerettet hat. In der Mitte eine Provinzhauptstadt mit einer Garnison zairischer Militärs, deren aktive Elemente am ehesten als marodierende Banden beschrieben werden können. Und zwischen allen die rund 70 Hilfsorganisationen – selbst ihre Zahl kennt niemand genau –, die mit ihren Autos, Lastwagen und Ambulanzen das Straßenbild, aber sonst gar nichts beherrschen. Helfen wollen sie, aber oft können sie sich nicht einmal von der Stelle rühren.

Vergangenen Montag, 11 Uhr. „Bis auf weiteres: alle Fahrzeuge mit ruandischem Nummernschild nicht im Stadtgebiet herumfahren!“ lautet das Kommando auf dem Funkkanal der Hilfsorganisationen. „Und wer aus einem der Lager kommt, nicht in die Stadt hineinfahren!“ Die Funkleitzentrale von UNHCR wußte zunächst nur, daß eine Menschenmenge zwei ruandische Busse von Hilfsorganisationen entführt hatte. Die Menge, so stellt sich bald heraus, das sind die Fleischer von Goma. 50 ihrer Rinder sind auf dem Weg in die Stadt geklaut worden, von einer Bande der ruandischen Armee im Exil. Also rächt man sich, kidnappt kurzerhand die Busse mit ruandischem Kennzeichen, bei dem Gerangel werden zwei einheimische UNHCR-Mitarbeiter leicht verletzt. Der Oberstleutnant der Exilarmee, deren Angehörige mit ihren Familien unter den Flüchtlingen hausen, läßt den Fleischern ausrichten, ihre Kühe könnten sie wiederhaben, wenn die zairische Regierung die bei ihnen konfiszierten Fahrzeuge zurückgebe und alle eingefrorenen Bankkonten freigebe.

Zwei Tage zuvor, Samstag letzter Woche. Der Funker in der Zentrale von Care Deutschland ruft alle 15 Teams mit ihren Ambulanzen schon am Vormittag zurück – „Sammeln und vorsichtig im Konvoi fahren. Demonstration am Stadtrand. Sicherheitsrisiko.“ Als es dann zurückgeht, sind die Straßen wieder frei. Aber vorher ist eine der Ambulanzen in die Demonstration geraten, die Menge hat versucht, sie zu entern und in ein Demofahrzeug umzufunktionieren. „Zehn Minuten haben sie gegen die Scheiben getrommelt, dann sind wir freigekommen“, berichtet Jochen Kliebisch. Vier Lastwagen von Médecins Sans Frontières führen schließlich die Demo an, danach läßt man sie stehen. Auslöser sind diesmal die regelmäßigen Raubzüge zairischer Militärs, die nicht nur bei den Flüchtlingen Autos „requirieren“, sondern auch die eigene Bevölkerung terrorisieren, in der Stadt plündern und stehlen. Ein Offizier, der als Bandenchef galt, ist gelyncht worden, die Militärs haben sich mit zwei Morden gerächt. Die Einwohner von Goma, unter dem Mobutu-Regime noch undenkbar, gehen auf die Straße, die internationale Präsenz schützt gegen ein sonst zu erwartendes Massaker.

Mit gutem Grund ziehen sich die Hilfsorganisationen bei Sonnenuntergang aus den Lagern zurück. Insofern ist der Versuch eines kenianischen Kamerateams schon etwas waghalsig, „den Sonnenaufgang im Lager von Kibumba aufzunehmen“. Nur ein paar Meter haben sich die beiden von der Straße wegbewegt, da kommt schon ein Haufen Hutu- Flüchtlinge auf sie zu, umringt sie unter „Tutsi, Tutsi“-Rufen und will sie lynchen. Mit Presseausweisen und langer Überredung kommen sie noch einmal davon. Andere haben weniger Glück. Eine ausländische Helferin hat in drei Tagen in Kibumba dreimal zusehen müssen, wie jemand gesteinigt oder totgeschlagen wurde. Hutu- Flüchtlinge gegen alle, die sie für ihre Feinde halten. Ob angebliche Tutsi, die man hinter einer Fernsehkamera vermutet, oder Hutu, die nur mit anderen Flüchtlingen über die Rückkehr ins tutsibeherrschte Ruanda reden wollen.

Für die militanten Hutu gehören auch die internationalen Helfer zu ihren potentiellen Feinden. Kommen sie nicht alle aus den westlichen Ländern, die geholfen haben, ihren Präsidenten Habyarimana zu stürzen? Die an der Demütigung schuld sind, daß sie von der kleinen Guerillaarmee der Zehnprozentminderheit ins Exil getrieben wurden? Alle, die ihre Geschichte nicht glauben wollen, der Völkermord sei in Wirklichkeit an den Hutu verübt worden, oder – wahlweise – man sei ja nur dem geplanten Völkermord der Tutsi an den Hutu zuvorgekommen, sind „Freunde der Tutsi“.

Noch herrscht um Goma der kalte Krieg. Vorsichtig arbeiten die „field officers“ des UNHCR, jeweils für eines der Lager verantwortlich, mit den auch im Exil noch so genannten Präfekten zusammen. In den Flüchtlingslagern, maßstabsgetreu nach den Provinzen und Kommunen Ruandas geordnet, regieren unangefochten die alten Autoritäten. Ohne sie könnten in einem Lager wie Kibumba mit rund 180.000 Menschen keine Lebensmittel ohne Mord und Totschlag verteilt werden, ohne die Zusammenarbeit mit ihnen war jede Umsiedlung in ein anderes Lager oder die jetzt geplante Registrierung aller Flüchtlinge ein aussichtsloses Unterfangen.

Eine ähnlich schwierige Gratwanderung bildet der Umgang mit den Soldaten der geschlagenen Armee. Ursprünglich wollte das UNHCR, wie es seine Regeln vorsehen, bewaffneten Soldaten keine Hilfe leisten. Doch was, wenn sich unter 150.000 Menschen im Lager Mugunga 20.000 Bewaffnete befinden? Wie soll man sie ausschließen, ohne daß sie sich mit Gewalt das holen, was ihnen verweigert wird? Auch hier haben die Hilfsorganisationen nachgegeben.

Die Perspektive ist düster. Man schätzt, daß mindestens die Hälfte der Flüchtlinge zurückkehren möchte und die Gefahr für Leib und Leben eher gering einschätzt – geringer jedenfalls als die sichere Aussicht, Haus, Land und Ernte zu verlieren. Doch bisher trauen sich nur wenige. Über die offiziellen Übergänge kommen im Schnitt 1.000 Menschen pro Tag. Rechnet man die grüne Grenze hinzu, vielleicht das Doppelte. Zieht man dann diejenigen wieder ab, die die Hin- und Rückreise regelmäßig unternehmen, um von dem Willkommenspaket zu leben, daß ihnen jedesmal überreicht wird, bleibt nur ein Tröpfeln von Rückkehrern. Vorläufig geht es weiter wie bisher. Flüchtlingsmassen, die von einer Exilarmee in Schach gehalten werden. Und ungeliebte Helfer ohne Schutz von Polizei oder UNO-Soldaten, die für das Überleben einer halben Million Menschen unverzichtbar sind.