"Du bist unser Mann in Bonn"

■ Ein Portrait von Cem Özdemir, Mitglied der baden-württembergischen Grünen

Vermutlich wird er der einzige Abgeordnete nichtdeutscher Abstammung sein, der in der nächsten Legislaturperiode in den deutschen Bundestag einziehen wird. Cem Özdemir ist 28 Jahre alt, seine Eltern sind Türken, er selbst ist in Deutschland, in der Nähe von Tübingen, geboren. Schon mit 15 Jahren wurde er Mitglied der Grünen, 1989 errang er einen Sitz im baden- württembergischen Landesvorstand der Partei. Der Sprung in den Bundestag ist ihm nun durch einen günstigen Platz auf der Landesliste gesichert.

Als Alibi-Ausländer fühlt er sich nicht. „Meine Position habe ich mir durch rastlose Aktivitäten erringen müssen. Ich mußte mich auf jedem Gebiet der Politik sachkundig machen. Die Herkunft meiner Eltern gewährt mir keinen Bonus, nicht einmal bei den Grünen. Eher ist das eine zusätzliche Last. Denn ich gerate immer wieder in die Auseinandersetzungen zwischen Türken und Kurden, zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei. Politiker deutscher Abstammung sind dergleichen Belastungen nicht ausgesetzt.“

Selbstverständlich interessiert sich Cem Özdemir für die Belange der Heimat seiner Vorfahren. Gelegentlich mischt er sich auch bewußt in die Debatten ein, versucht auf der Basis der Menschenrechte zwischen den Fronten zu vermitteln. Daß er dabei auch mal der Liebäugelei mit der türkischen Regierung oder der Parteinahme für diese oder jene Gruppe bezichtigt wird, nimmt er in Kauf. Er geht in die türkischen Vereine, in die Moscheen, diskutiert über die Rechte der Minderheiten, über Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen, über Christentum und Islam. Er besucht aber auch christliche Gemeinden und versucht für mehr Verständigung zwischen den Religionen zu werben. Doch alle diese Aktivitäten betrachtet er als eine Nebentätigkeit, die ihm der Zufall seiner Herkunft auferlegt hat. Sein eigentliches Interesse gilt jedoch nicht der Türkei, sondern der Bundesrepublik Deutschland.

Er fühlt sich als ein vollberechtigter Bürger dieses Landes, und er hat sich zum Ziel gesetzt, tatsächlich als Vertreter des Volkes zu wirken.

Doch trotz seiner weitreichenden Sachkompetenz und seiner perfekten Deutschkenntnisse, die er mit schwäbischem Akzent zum Ausdruck bringt, wird es nicht leicht sein, bei den Bürgerinnen und Bürgern die Akzeptanz für diese angestrebte Funktion zu erringen. Bis Herr Müller und Frau Schmidt, Herr Hinz und Frau Kunz einen Herrn Özdemir als ihren politischen Vertreter betrachten, bedarf es eines grundlegenden Bewußtseinswandels, der erst durch eine langwierige Aufklärungsarbeit erreicht werden kann. Selbst innerhalb der Grünen seien Vorbehalte und Vorurteile nicht ausgeschlossen. Noch begegnet er auf den Wahlveranstaltungen Ignoranten, die ihn auffordern, sich lieber um die Belange seiner eigenen Heimat zu kümmern. „Genau das tue ich“, gibt er ihnen zurück. „Deutschland ist meine Heimat.“

Er müsse Pionierarbeit leisten; er sei aber zuversichtlich, daß in wenigen Jahren die aktive Teilnahme der Bürgerinnen und Bürger ausländischer Herkunft an den politischen Entscheidungsgremien als eine Normalität hingenommen werden wird.

Ausländer, vor allem Türken, sind zumeist stolz auf ihn. „Du bist unser Mann in Bonn“, sagen sie ihm und klopfen ihm auf die Schulter. Manche sammeln sogar Zeitungsberichte, die ihn betreffen. Viele setzen große Erwartungen in ihn. Doch diese Sympathiebekundungen registriert er mit gemischten Gefühlen. Denn auch hier muß er manche Mißverständnisse ausräumen und der Gefahr vorbeugen, daß die Landsleute seiner Eltern ihn als ihren Lobbyisten in Bonn betrachten. Würde er diesem Wunsch der Türken nachgeben, wäre das Bemühen um seine Akzeptanz als Volksvertreter im deutschen Bundestag vergeblich.

Selbstverständlich wolle er sich um die Belange der Einwanderer und Flüchtlinge kümmern. Gerade in diesem Bereich habe er die Absicht, in den nächsten vier Jahren deutliche Akzente zu setzen. Schon allein das eigene Schicksal und das seiner Eltern und Verwandten und die damit verbundenen vielschichtigen Diskriminierungen sind für ihn Beweggründe genug, um sich auf diesem Gebiet besonders zu engagieren. Daher habe er die Absicht, als einwanderungspolitischer Sprecher seiner Fraktion im Bundestag zu wirken. Doch damit wolle er sich nicht begnügen.

Er möchte seine Fraktion im Innenausschuß vertreten und sich besonders im Bereich der Ökologie einsetzen. Gerade die katastrophale Entwicklung auf diesem Gebiet habe ihn zur aktiven Teilnahme an der Politik motiviert. „Ich habe wenig Verständnis für Migranten, die seit dreißig Jahren und mehr hier leben, sich aber kaum mit Belangen der bundesrepublikanischen Gesellschaft auseinandersetzen“, sagt Cem Özdemir. „Das Desinteresse an der Gesellschaft, in der man real lebt, und das ständige Wiederkäuen von Erinnerung an eine Heimat, die in Wirklichkeit so nicht mehr existiert, ist eine Schizophrenie, die krank macht.“

Cem Özdemir ist zuversichtlich, daß die zweite und dritte Generation sich mit Erfolg aus dieser lähmenden Haltung herauskämpfen wird. „Wenn wir schon die legitime Forderung nach Gleichberechtigung stellen, dann müssen wir auch bereit sein, uns als politisch verantwortliche Bürgerinnen und Bürger zu verhalten. Wer mehr Rechte will, muß auch mehr Pflichten übernehmen.“ Bahman Nirumand