Ich dumm! Ich mach anders!

Adolf Endlers Sudelblätter vom Prenzlauer Berg aus den Jahren 1981-1983 sind eine groteske Enzyklopädie des untergegangenen DDR-Alltags  ■ Von Peter Walther

Berlin/DDR, Prenzlauer Berg, drittes Hinterhaus, 4. Stock, Klo auf halber Treppe: Das Mitglied des P.E.N., der „World Association of Writers“, Adolf alias Eddy „Pferdefuß“ Endler, sitzt am schmuddeligen Schreibpult und sinniert über den Versuch, „aus dem bröckelnden und versifften (versyphten?) Hinterhaus ins stabilere Vorderhaus zu ziehen, nach vorne also, in die Welt der Kleinprivilegierten“. Das Vorhaben scheitert. Die von Endler ausgeguckte Wohnung ist eine konspirative Wohnung der Staatssicherheit, so daß sich die bereits nach vorne gewuchteten Möbel, begleitet vom höhnischen Kommentar des HAUSWARTS, im nassen Kellergang wiederfinden.

In der Tradition der Lichtenbergschen Sudelbücher hat Adolf Endler eine Auswahl aus Notizen, Zitaten, Traum-Notaten und Briefen aus den Jahren 1981-83 zusammengestellt. Was unter normalen Umständen als leidiger Mißgriff bei der Wohnungswahl gedeutet werden könnte, vielleicht als „Pech mit den Nachbarn“, wird in den Endlerschen Tagebuchaufzeichungen zum Makel mit Systemqualität. Es ist die Machtfrage, die auf allen Ebenen gestellt wird. Nirgendwo ist der Bürger sicher vor der alles entscheidenden Frage: „wer wen?“ Ein ausgeklügeltes System von Privilegien und Schikanen, von der Anmeldepflicht im Hausbuch bis zur Willkür bei der Vergabe von Kellerraum, sorgt für Disziplinierung in der Hausgemeinschaft. Nicht viel anders funktioniert das System in der größeren Öffentlichkeit. Die Liste der Stichworte reicht von Postüberwachung, Reisekader, Berufsverbot, Unterschriftensammlung und Ausreiseantrag bis zu Flächenbefragung, HWG-Stempel und Telefonwürdigkeit. Wer erinnert sich schon daran, daß es noch vor fünf Jahren zur volkspolizeilichen Praxis gehörte, Frauen nach Belieben einen Stempel mit dem Kürzel „HWG – Häufig wechselnder Geschlechtsverkehr“ in den Ausweis zu drücken?

Endler führt die fast schon vergessenen kleinen und großen Demütigungen, aber auch den dümmlichen Stolz der Eingeweihten auf ihr „Sonderwissen“ oder auf sonstige Vergünstigungen noch einmal vor Augen. Ganz nebenbei ist auf diese Weise eine kleine Enzyklopädie des DDR-Alltags entstanden. Die Absurditäten dieser geschlossenen Gesellschaft – in der speziellen Ausprägung eines Stadtbezirks – hat der Tagebuchschreiber nicht suchen müssen, sie sind ihm zugefallen. Als Tarzan am Prenzlauer Berg, „der typische Großstadtmensch, der City-Affe schlechthin“, hangelt er sich „von Liane zu Liane, von Lokal zu Lokal, von Trottoir zu Trottoir“, wohnt der „Abschlußsauferei einiger Kampfgruppenkämpfer“ bei, die im deutschen Liedgut aufgehen („Wir lagen vor Madagaskar“), oder durchwandert mit dem greisen Dichter Erich Arendt die Straßen des Stadtbezirks, „zwei müßiggängerisch-müde, zuweilen haltlos kichernde Straßenbegeher unterschiedlichen Alters, sinnvoll-absurde Antwort auf die Zumutungen des Jahrhunderts“. Auf ihren Spaziergängen treffen die beiden auf Kiez-Originale wie den „staksig humpelnden Alkoholiker-Zar Mühle“, die „Gebrauchsgrafikerin und Medaillengestalterin ,Ganovenpaula‘“ oder auf die Aktivisten des literarischen und politischen Untergrunds.

Ein Staunen darüber, wie stark die Wahrnehmung und die Erinnerung von den veränderten Zeitläuften beeinflußt werden können, fällt nicht nur den Leser der Tagebuchblätter an, sondern ist auch schon in ihnen selbst enthalten. Aus einem Wust von Papieren gräbt Endler im Juni 1982 den Durchschlag des Protestbriefes aus, den er gemeinsam mit Elke Erb anläßlich der Biermann-Ausbürgerung an den DDR-Kulturminister geschickt hatte: „Biermann hat in seinen besten Leistungen die progressive Dichtung nicht nur weitergeführt, sondern um Aspekte bereichert, die ihm der Sieg der sozialistischen Gesellschaftsordnung auf dem Boden der DDR ermöglicht hat“, heißt es darin, und: „Wir können der Entscheidung der zuständigen Stellen nicht zustimmen.“ Endlers Tagebuchkommentar von 1982: „Sechs Jahre später mutet einen der Brief wie ein Dokument von einem anderen Stern an. Sind wir wirklich so liebe Kinder gewesen?“

Natürlich nicht, läßt sich mit Hinweis auf das Neue Deutschland vom 22. November 1976 sagen, wo „Kulturschaffende“ wie Harry Thürk, Günther Deicke, Helmut Sakowski oder Heinz Kamnitzer auf den Seiten 3 bis 5 die Gelegenheit nutzten, ihre „überwältigende Zustimmung zur Politik von Partei und Regierung“ zu äußern (der Aufmacher vom Tage: Erich Honecker beglückwünscht das Volk von Guinea zum 6. Jahrestag des Sieges über die imperialistische Aggression – kein Scherz!). Solchen „unerleuchteten Blindschleichen“, den wirklichen „lieben Kindern“, gilt dann auch ganz besonders der Endlersche Hohn. Zum Beispiel der Autorin Ruth Kraft und den „Freunden ihres Hauses“, von denen Frau Kraft in einem Zeitungsbericht erzählt (Endler: „Freunde unseres Hauses!, ich muß an sonntägliche Blockflötenkonzerte denken, an kleine lockere Gesellschaften auf besonnter Terrasse denken dabei!“). Frau Kraft beneidet die junge Künstler-Generation in der DDR, die sich nicht – wie früher – im „politischen Dagegensein“ aufbrauchen müsse. Endler dazu: „Das ist des Pudels Kern: Ja, das politische Dagegensein, das hat sie alle ganz schön kaputt gemacht, die Walther von der Vogelweide, Heinrich Heine und Heinrich Mann, die Enzensberger und Brecht, ja, in der Tat, im Grunde alle – außer Ruth Kraft und den Freunden ihres Hauses“.

Fast vergessen ist auch, daß es schon zu DDR-Zeiten einen latenten ostdeutschen Rassismus gegenüber den „sozialistischen Brüdervölkern“ gab, präsent im Gegensatzpaar „polnische Wirtschaft“ und „deutsche Wertarbeit“ (und doppelt lächerlich mit Blick auf die in der DDR allenthalben praktizierte Schlamperei). Endler referiert den überheblichen Reisebericht eines ostdeutschen Ingenieurs, dessen Erzählung um die grotesken Bemühungen des deutschen Genossen kreist, „einem moskauer Putzfrauengeschwader, das den Fliegendreck auf einer Schaufensterscheibe lediglich hin und her wandern läßt, eine wirkungsvollere Reinigungs-Methode ans Herz zu legen; die höhnische Reaktion einer älteren Frau: ,Ich – dumm! Ich mach' anders!‘ Wer mich kennt, kann sich denken, daß ich sofort auf der Seite dieser mürrischen Moskowiterin stehe. Ich – dumm! Ich mach' anders!; könnte vielleicht als Motto über all meinem Geschreibsel stehen.“ Am 20. September wird Adolf Endler, der große Lyriker und Essayist, Verfasser des dreizehnbändigen und zu Teilen schon veröffentlichten Romanwerks „Nebbich“, Herausgeber der Briefe von Bobbi „Bumke“ Bergemann, Korrespondenzpartner von Pamela Bolte usw. usf., am 20.9. wird er, weit noch, meilenweit vom „dösigen Alter“ entfernt, 64 Jahre alt. Gott schütze Adolf Endler, schenke ihm Gesundheit und ein langes Leben!

Adolf Endler: „Tarzan am Prenzlauer Berg“. Verlag Reclam Leipzig, 289 Seiten, geb., 36 DM