Wahrscheinlich der Erfinder der DDR

■ Wie lebt der Literat im Slapstick-Staat? Ein Interview mit Adolf Endler, der sich selber einen melancholisch-pathetisch- apathisch-cholerischen Autor nennt und die DDR seit der Biermann-Affäre als ein absurd komisches Unternehmen begriff

taz: Sie sind 1930 in Düsseldorf geboren, haben Ihre Kindheit und einen großen Teil Ihrer Schulzeit im „Dritten Reich“ verbracht. Wie haben Sie das Kriegsende erlebt?

Adolf Endler:Das Kriegsende habe ich in einem Kinderlandverschickungslager am Main erlebt, das dann von den Amerikanern überrollt wurde. Ich habe es erlebt als schon zwei oder drei Jahre lang gegen Hitler eingestellter Knabe dank der Erziehung meiner Mutter, die aus Belgien stammt. Es war so, daß ein Teil meiner belgischen Verwandtschaft zur Widerstandsbewegung gehört hat, und daß einige meiner Verwandten umgebracht worden sind. Das hat sich selbstverständlich dann auf Umwegen auch dem Kind mitgeteilt.

Nach Ihrer Schulzeit haben Sie in unterschiedlichen Berufen gearbeitet ...

Ich wollte schon mit 15 Dichter werden. Ich habe auch mit 15 oder 16 zum ersten Mal ein Gedicht veröffentlicht. Für mich war das Erlebnis der plötzlich nach 1945 ins Land strömenden neuen Literatur überwältigend, ausländischer Literatur, aber auch der vertriebenen Literatur, die in den ersten Jahren nach dem Krieg in West-Deutschland sehr viel präsenter war als dann nach der Währungsreform. Die Begegnung mit solcher Exilliteratur, Brecht, Heinrich Mann, aber auch schon damals Musil und Broch, die in abgelegenen Zeitschriften vorgestellt wurden, hat mich politisch sehr geprägt. Es erklärt auch zum Teil meine spätere Entwicklung, meine gewissermaßen frühreife Enttäuschung über den Gang der Dinge in West- Deutschland.

Sie haben sich dann politisch engagiert?

Ja, natürlich in diesem Zusammenhang auch. Ich hab' schon kurz nach dem Krieg in Düsseldorf Emigranten kennengelernt, in der Regel Kommunisten, sehr achtbare Leute, die sich zumeist im Laufe der Zeit von der Kommunistischen Partei getrennt haben. Die haben mich sehr beeindruckt und mich in ihre Arbeit mit hineingezogen.

1955 sind Sie in die DDR übergesiedelt, wo fünf Jahre später Ihr erster Lyrik-Band „Erwacht ohne Furcht“ erschienen ist. Liest man die Gedichte in diesem Band, fällt vor allem Ihre von Bitterkeit und Verletzungen ungetrübte optimistische Weltsicht auf. Einem jungen westdeutschen Dichter empfehlen Sie gegen die Empfindung geistiger Leere: „Füll im Klassenstreit/ Deine Seele auf“.

Das war zweifellos ein Strohfeuer. Ein kurzfristiger Radikalismus oder ein kurzfristiges radikalinskihaftes Verhalten, das so etwa über drei bis vier Jahre ging. Was natürlich mit meiner Übersiedlung in die DDR zu tun hatte und mit dem Versuch, in diese Dinge hier reinzukommen. Das hat eine Art radikalinskihaften Aktivismus bei mir bewirkt, nicht nur bei mir, sondern bei allen, die diesen Weg gegangen sind. Dabei entstehen dann meist die Texte, deren man sich bis ans Ende seines Lebens schämt, und die man dann nicht wieder loskriegt.

Was haben Sie gedacht, als die Mauer gebaut wurde?

Ich habe gedacht – wie wir alle, bis hin zu Biermann und Bernd Jentzsch, daß tatsächlich die große Debatte und auch die Befreiung der Literatur stattfinden würde. Klingt heute paradox, haben aber tatsächlich fast alle im Kopf gehabt. Zunächst war man nicht für die Mauer, wie sie dann in der Realität existiert hat, aber doch für die Befestigung der Grenze, für die DDR als selbständigen Staat. Die Frage war nicht: „Mauer oder nicht Mauer?“ sondern: „DDR oder nicht DDR?“ Alsbald haben dann natürlich alle bemerkt, daß diese große Auseinandersetzung keineswegs stattfand, sondern die Mauer benutzt worden ist, um sie zu zerschlagen und zerknüppeln.

Wie lange hat es gedauert, bis Sie diese Illusion ...

Wenige Monate, ich möchte fast sagen, wenige Wochen.

Also, vielleicht ein halbes Jahr, länger bestimmt nicht.

1962 hat Stephan Hermlin eine Lesung von damals jungen Lyrikern veranstaltet, bei der Leute wie Mickel, Braun, Czechowski, - Leising, Gressmann, Bartsch, - Biermann, Sarah und Rainer Kirsch zum ersten Mal öffentlich aufgetreten sind.

Um 1960 herum sind die meisten dieser Leute aufgetaucht. Zum Teil haben sie geschrieben in Abwehr der oberflächlichen, quasi volkstümlichen Poesie, wie sie damals auch von Becher gefördert wurde. Es war zum Teil kritische Literatur, aber auch diese kritischen Autoren haben sich dann im ersten Moment für die Mauer erklärt.

Rainer Kirsch zum Beispiel ...

Kirsch, Biermann, Heinz Czechowski, Mickel, auch ich. Der Weg dieser Literaten ist dann zu so einer Art Klassizität gegangen. Ich hatte – auch thematisch – lange Zeit mit denen zu tun, vielleicht sogar untergründig bis heute, aber ich bin eigentlich ein anderer Typ Lyriker, ich bin garantiert kein Klassiker, sondern der Anti-Klassiker. Das ist dann ganz deutlich hervorgetreten, als sich dieser rabaukenhafte Prenzlauer-Berg- Kreis gebildet hat und ich natürlich sofort mit denen sympathisiert habe. Da habe ich mich auch wieder mit Surrealismus, Dadaismus und ähnlichen Dingen beschäftigt, obwohl ich kein Surrealist und kein Dadaist bin. Obwohl heute wieder in der FAZ „der weise Spätdadaist Adolf Endler“ steht ...

Das muß Sie doch freuen ...

Ja, das „weise“ freut mich, doch ich bin weder ein Früh- noch ein Spätdadaist. Ich habe mich mit diesen Dingen schon beschäftigt, auf eine Weise, daß es sich belebend auf meine Produktion ausgewirkt hat, auch verändernd. Ich habe eigentlich nie zu einer Richtung gehört. Ich habe Leute gefördert und propagiert, die mir wichtig erschienen. Ich bin eigentlich immer ein bißchen ein Außen, immer ein bißchen ein Außen, nicht – immer ein ein bißchen ein Außenseiter gewe-, ja, ein Außenseiter gewesen. Das war jetzt ein kleines Beispiel von Dadaismus.

Die meisten Autoren, die damals in Erscheinung traten, waren nicht einfach nur Dichterkollegen, sondern auch miteinander befreundet, widmeten sich gegenseitig Gedichte, zitierten einander ...

Es ist ganz deutlich die Literatur in einer Notsituation. Es war ja eine Literatur, die nicht akzeptiert wurde, die streckenweise auch verboten war. Es war Selbsthelfertum in einer bestimmten Notsituation, die dazu geführt hat, daß diese innigen Kontakte entstanden sind, und diese innigen Kontakte haben dann auch zu gewissen ähnlichen Entwicklungen bei unterschiedlichen Leuten geführt.

Seit Mitte der 70er Jahre haben Sie mehr und mehr Prosa und kaum noch Gedichte veröffentlicht. Hängt das vielleicht mit der zunehmenden Verbitterung über die Zustände in der DDR zusammen? In diese Zeit fallen zwei wichtige Daten: die Biermann- Ausbürgerung 1976 und Ihr Ausschluß aus dem Schriftstellerverband 1979.

Das spielt eine Rolle, nur ist der Begriff „Verbitterung“, was mich betrifft, nicht zu verwenden. Natürlich habe ich schlechte Tage gehabt, die habe ich auch heute. Aber ich bin eigentlich nie verbittert gewesen. Was die Gedichte anbetrifft, ich habe die ganze Zeit Gedichte geschrieben. Ich habe auch in diesem Jahr schon wieder ein Gedicht geschrieben, über meinen Bart – die allmähliche Vereisung meines Bartes ... Ich habe nie aufgehört, Gedichte zu schreiben, aber es ist natürlich wahr, daß ich vor allem andern Prosa geschrieben habe, etwa seit Mitte der 70er Jahre. Bedingt durch einige Schocks, unter anderen die Biermann-Ausweisung, nach der mir die DDR ohnehin als ein Slapstick- Unternehmen erschienen ist. Es ist mir dann wie Schuppen von den Augen gefallen. Andern ist es leider nie wie Schuppen von den Augen gefallen. Ich habe dann die DDR abgehandelt als ein Kuriosum, wie Sie wissen.

Das ging in Prosa besser als ...

Das ging in Prosa besser als in Gedichten. Ich habs auch in einigen Gedichten getan, aber ich konnte dieses widersprüchliche Kuriosum in Gedichten nicht mehr fassen.

Was hat Sie, nachdem Sie seit 1979, abgesehen von einer Ausnahme – „Akte Endler“, in der DDR nicht mehr gedruckt wurden, dennoch im Osten gehalten? War es die Dichterszene am Prenzlauer Berg, für die Sie eine Rolle als Mentor einnahmen?

Also, auf das Normalste kommen Sie nicht. Ich hatte Beziehungen zu Frauen, zu meinen Kindern, und das war durchaus ausreichend als Klebemittel.

Hatten Sie im Zuge von Glasnost und Perestroika noch einmal Hoffnung auf eine Veränderung innerhalb des Systems?

Nein. Seit Mitte der 70er Jahr nicht mehr.

Fühlen Sie sich von Anderson und Schedlinski verraten?

Ja.

In Ihren Texten spielt das Thema „Wohnung“ eine große Rolle. Zahlreiche Gedichte drehen sich darum. Der Gedichtband „Sandkorn“ sollte eigentlich „Wohnungen“ heißen. Wissen Sie noch, wie oft Sie innerhalb Berlins umgezogen sind?

Wohnungen habe ich eigentlich erst nach der „Wende“ richtig kennengelernt. Ich hatte meistens in Bruchbuden gehaust. Eine richtige Wohnung habe ich erst in Leipzig kennengelernt dank meiner jetzigen Frau, und eine ganz richtige Wohnung habe ich erst seit 1990.

Sie meinen diese hier.

Diese hier, ja. Umgezogen bin ich oft, in einem Buch habe ich geschrieben: 73mal. Innerhalb von Berlin bin ich wahrscheinlich 112mal umgezogen.

Sind Sie hier angekommen?

Das Thema Wohnung ist für mich erledigt, ja. Abgesehen davon, daß es natürlich ein Grundthema der menschlichen Existenz ist, hatte für mich der Begriff „Wohnung“ eine nach vielen Seiten hin ausstrahlende Bedeutung. Ich hatte immer Schwierigkeiten, eine Wohnung zu kriegen. Nachdem ich mich so schlecht verhalten hatte, schloß sich ja jegliche Unterstützung durch den Verband aus, derer man schon bedurfte, wenn man als freier Autor eine Wohnung kriegen wollte.

Eine Frage, die Sie wahrscheinlich für verwerflich halten ...

Bestimmt.

Ist Ihnen mit der DDR so etwas wie Ihr Lebensthema verlorengegangen?

Die DDR war für mich schon sehr lange, das habe ich auch geschrieben, sowas wie die Absurdität der Welt in der Nußschale. Vielleicht habe ich da die Bedeutung der DDR überschätzt. Die Absurdität der Welt ist natürlich geblieben, auch wenn die Nußschale zerplatzt ist.

Die Absurdität finden Sie jetzt woanders.

Die finde ich immer und überall. Vielleicht ist überhaupt meine ganze Existenz nicht so sehr auf DDR und Sozialismus zu beziehen, sondern auf die Frage, ob das Leben absurd oder nicht absurd ist. So was hat bei mir immer nur eine Rolle gespielt ...

Es hat doch aber die konkreten Formen der DDR angenommen.

Es hat nicht die konkreten Formen der DDR angenommen, die DDR hat sich da angeboten als Stoff. Ich hatte bestimmt in den letzten 10, 15 Jahren ein Verhältnis zur DDR wie zu einem absurden, verrückten und komischen Stoff. Das darf man fast nicht laut sagen, weil es eine gewisse Immoralität beinhaltet. Es müßte sich eigentlich aus meinen Büchern schlußfolgern lassen. Ich war sehr getrennt von der DDR. Neulich hat mal einer geschrieben: Er ist ganz DDR und der DDR ganz fremd. Da ist was dran. Ich habe mich dann natürlich in diesen Stoff vertieft, ihn verinnerlicht, sozusagen. Wahrscheinlich bin ich der Erfinder der DDR. Interview: Peter Walther