■ Die Krise der Gesamtschule zwingt zum Umdenken: SOS, liebe Freunde von der GEW!
Ulrich Sprenger (63) hat lange die gymnasiale Oberstufe einer Gesamtschule geleitet. Er wechselte nach 12jähriger Tätigkeit als Studiendirektor an zwei Gymnasien auf eigenen Wunsch zur Gesamtschule. 1993 ging er in den Ruhestand. Seine kritische Bilanz, die in der Zeitung der nordrhein-westfälischen Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) erschienen ist, hat inner- und außerhalb der Gewerkschaft zu heftigen Diskussionen geführt. Bei der am Samstag stattfindenen Landesvertreterversammlung der GEW wird der Beitrag für zusätzlichen Konfliktstoff sorgen. Die Gesamtschule feiert nämlich in diesem Jahr ihr 25jähriges Jubiläum.
taz: Herr Sprenger, Sie haben 22 Jahre an einer Gesamtschule gearbeitet und jetzt eine Bilanz vorgelegt, die zu erregten Diskussionen geführt hat. Für die einen sind Sie ein „Nestbeschmutzer“, ein Propagandist eines bildungspolitischen Rollbacks, die anderen sprechen von einem „redlichen Erfahrungsbericht“ und fühlen sich durch ihre Kritik „ermutigt“, für die notwendigen „dringenden Veränderungen“ des Systems Gesamtschule einzutreten. Ist die Gesamtschule, die ja „soziales Lernen“, „Chancengleichheit“ und „individuelle Förderung “ gleichermaßen realisieren wollte, gescheitert?
Ulrich Sprenger: So pauschal habe ich diese Auffassung nie vertreten, aber ich bin mir sicher, daß die derzeitigen, von der Kultusministerkonferenz (KMK) festgeschriebenen Rahmenbedingungen für SchülerInnen wie LehrerInnen nicht zuträglich sind und zur Lösung der heute anstehenden gesellschaftlichen und pädagogischen Probleme nicht taugen. Ich rede hier über Großstadtgesamtschulen, die als Angebotsschulen neben Gymnasien, Realschulen und Hauptschulen existieren – nicht über die Einheitsgesamtschule auf dem Lande. Diese städtischen Gesamtschulen haben inzwischen nicht mehr die Schüler, denen die derzeitige Organisationsform Nutzen bringen könnte.
Das gilt in zweierlei Hinsicht: Einmal haben viele Gesamtschulen nicht mehr die wünschenswerte Anzahl von potentiellen Gymnasialschülern. Manche ist nahe daran, zu einer extrem teuren Hauptschule in Ganztagsform zu werden. Zum zweiten haben viele Schülerinnen und Schüler nicht mehr die innere Stärke und Stabilität, um die Frustrationserlebnisse des ständigen Über- beziehungsweise Unterfordertseins ertragen zu können. Infolgedessen beobachtet man an den Gesamtschulen eine augenfällige Verwilderung, eine Brutalisierung, eine soziale wie auch emotionale Verwahrlosung – ungleich höher als an anderen Schulen –, die zu einer abnehmenden Effektivität des Unterrichts geführt hat. Um dem entgegensteuern zu können, müßte man zu einem der Merkmale der Gesamtschule, der die Klassen aufsplitternden Fachleistungsdifferenzierung, auf Distanz gehen und aus pädagogischen Gründen, so früh und so weit es geht, fachübergreifend konstante Klassenverbände einführen.
Differenzierung, Auflösung von Klassenstrukturen gibt es doch auch an Gymnasien.
Aber längst nicht in diesem Ausmaß und auch nur in Wahlfächern. Wer schon länger an Gesamtschulen arbeitet, erinnert sich mit Wehmut an die Jahre vor 1986, in denen wenigstens im 9. Und 10. Jahrgang im Klassenverbund unterrichtet wurde. Hier kam es tatsächlich dazu, daß die Stärkeren die Schwächeren mitzogen und diese Solidarität auch in der Oberstufe beibehielten. Heute ist das Gegenteil allzu oft der Fall. Allenthalben beobachtet man eine Nivellierung auf dem niederen Niveau, unter anderem, weil die Minderbegabten in der Regel die vital Stärkeren oder Rücksichtsloseren sind und das größere Durchsetzungsvermögen haben. Noch etwas anderes ist zu bedenken. In den letzten zwanzig Jahren hat sich die Zahl verhaltensauffälliger beziehungsweise schwer motivierbarer Schülerinnen und Schüler – je nach Landschaft – verdoppelt, wenn nicht vervierfacht. Gerade in der Gesamtschule kann man aber eigentlich nur solche Kinder erfolgreich unterrichten, die belastbar und seelisch einigermaßen stabil sind. Das ursprüngliche Ziel einer sozialen Bildung ist deshalb an vielen städtischen Gesamtschulen nicht mehr einzuhalten. Statt dessen konstatiert man eine zwanghafte Lust am Stören, eine völlige Unfähigkeit zur Selbstkontrolle, eine abnehmende Leistungsbereitschaft bis hin zu einer offenen Leistungsverweigerung. Und immer häufiger kann man feststellen, daß viele Kinder selbst die einfachsten sozialen Umgangsformen zu Hause nicht gelernt haben.
Das sind aber doch Probleme, die aus der Gesellschaft selbst kommen und die auch an anderen Schulformen virulent sind.
Gewiß hat ein Teil der geschilderten Defizite gesamtgesellschaftliche Ursachen. Aber dieser Hinweis darf nicht zur Ausrede verkommen. Vor dreißig Jahren wurde der Bildungsnotstand ausgerufen. Die Gesamtschulen haben zu dessen Aufhebung zweifellos beigetragen. Das aber, was man heutzutage diagnostizieren muß, darf als ein Erziehungsnotstand bezeichnet werden.
Die Schule muß heute, ob sie will oder nicht, Aufgaben der Familie übernehmen. Das erfordert dann aber den Zusammenhalt von Klassenverbänden und kleinere, überschaubare Schulen. An Gesamtschulen drängen daher viele Klassenlehrer darauf, der größeren Einflußmöglichkeiten wegen in ihren Klassen auch fachfremd Unterricht zu übernehmen, einfach, um die Schüler wieder öfter zu sehen, um als Bezugsperson im Spiel zu bleiben und um so die Nachteile der derzeitigen Rahmenbedingungen zumindest in Grenzen zu kompensieren. Solange die Ausbildungsverordnungen für die Gesamtschulen nicht so geändert werden, daß wenigstens für die leistungsstärkeren und für die leistungsschwächeren Schüler jeweils fachübergreifend konstante Lerngruppen, Klassen also, gebildet werden, ist – zumindest in den größeren Städten – jede neue Gesamtschule eine neue Gesamtschule zuviel. Pointierter gesagt: Wenn man die Gesamtschule als pädagogische Institution hätte ruinieren wollen, dann hätte man das nicht unauffälliger und effektiver machen können als durch die KMK-Verordnungen. Wenn nämlich die Gesamtschulen im bisherigen Stil weitergeführt werden müssen, dann werden viele von ihnen zu einem extrem teuren Desaster.
Wenn man Ihren Anregungen folgte, bekäme man quasi eine Schule, die ab dem 8. Jahrgang dem jeweiligen Leistungsniveau angepaßte, abschlußbezogene Bildungsgänge – Hauptschule, Realschule, Gymnasium – unter einem Dach anböte. Das wäre dann aber keine integrierte Gesamtschule mehr.
Ja, so kann man es sehen – und genau das ist das Dilemma der Gesamtschule und ihrer Befürworter.
Mit der Gesamtschule sollte mehr Chancengleichheit für alle Schüler erreicht werden. Ist mehr Ungleichheit herausgekommen?
Ich bin nach der Endredaktion meines Textes auf die Empfehlungen des deutschen Bildungsrates vom Januar 1969 gestoßen. Da wird gegen die in Gesamtschulen übliche schrittweise und nur auf einzelne Fächer beschränkte Auslese eingewendet, „daß sie bei Schülern mit früh erkennbarer guter Lernfähigkeit die Leistungen schwächen und die Lernmotivation behindern würde. In demselben Zusammenhang bestehen Bedenken, daß den lernschwachen Schülern ein Schonraum entzogen würde und sie Belastungen ausgesetzt werden, die ständige Mißerfolgserlebnisse zur Folge haben und frühzeitige Resignation erzeugen.“ Ferner schrieb der Bildungsrat, daß „die fortschreitende Auflösung des Klassenverbandes mit seiner klaren und kontinuierlichen Gruppenstruktur und seinen festen Kameradschaftsbeziehungen“ dazu führen könnte, daß „die Schule nicht mehr den Stabilisierungsbedürfnissen der Schüler entspricht“.
Ich war völlig perplex, als ich das las, denn ich hatte gerade zuvor mit fast ähnlichen Formulierungen die tatsächliche Lage an vielen großstädtischen Gesamtschulen beschrieben. Es klang so, als hätte ich das abgeschrieben.
Die GEW sagt, die beste Alternative zur Gesamtschule sei die bessere Gesamtschule. Würden Sie dem zustimmen?
Die bessere Gesamtschule, also eine für Lehrer und Schüler bekömmliche Schule, ist unter den von der KMK festgelegten Rahmenbedingungen zur Zeit nicht möglich. Mich verwundert, daß die GEW diesen Ball nicht aufgreift.
Zwei Ihrer drei Kinder haben 1978 beziehungsweise 1982 ihr Abitur auf einer Gesamtschule gemacht. Würden Sie Ihre Kinder auch heute wieder auf die Gesamtschule schicken?
Nein, ebensowenig wie viele andere Kollegen auch. Damals war die Gesamtschule, die sie besuchten, eine ganz andere Schule, geradezu eine Art Vorzeigeschule.
Warum kommt die Diskussion über die Schwächen erst jetzt in Gang?
Weil viele Befürworter der Gesamtschule die Probleme, sei es aus Wahrnehmungsschwäche oder wegen Prestigedenkens, verdrängt haben. Hinzu kommt, daß wir es bei den energischsten Streitern für die Gesamtschule zum Teil mit Gläubigen zu tun haben, die sich von Fakten nicht beirren lassen. Interview: Walter Jakobs
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