Ein Tabu von enormen Dimensionen

■ Das Institut für Sozialforschung untersucht die Verbrechen der Wehrmacht

Im Gegensatz zu den „bösen“ Nazis besitzt die Wehrmacht im kollektiven schlechten Gewissen der Deutschen noch immer den guten Ruf der „Armen Schweine“, die für die „wirklich schlimmen Verbrechen“ eigentlich gar nichts konnten. Das zeigte sich zuletzt wieder bei der unsäglichen Debatte über die Benennnung von Bundeswehr-Kasernen, die vielfach noch immer die Namen von Befehlshabern der Wehrmacht tragen, deren Schuld an den Grauen des Hitler-Regimes aber bis in die politische Höhenluft verleugnet wird. Auch die historischen Seminare der Bundesrepublik beschäftigten sich seit Kriegsende nur selten mit der Rolle der Wehrmacht in Hitlers Vernichtungskrieg und das Militärgeschichtliche Forschungsamt in Freiburg findet – trotz hervorragender Einzelbeiträge – seit 20 Jahren keine klare wissenschaftliche Position zu diesem Thema. Die beharrliche Behauptung vom angeblich „anständige Krieg“ der Wehrmacht, den von Adenauer bis zu den zwei Helmuts noch jeder Kanzler erklärte, verschließt somit eines der explosivsten Tabus der deutschen Geschichte: die Wahrheit über die offensive Beteiligung der Wehrmacht an den Verbrechen der Nationalsozialisten.

Wie hochexplosiv das Thema noch immer ist, zeigten zuletzt auch die Vorgänge um einen Zeit-Artikel von Benedikt Erenz von 1992, in dem er die Wehrmacht als die größte „Mord- und Terror-Organisation der deutschen Geschichte“ bezeichnete und bemängelte, daß noch immer eine umfassende Dokumentation über die Verbrechen der Wehrmacht fehlt. Machten damals ehemalige Wehrmacht-Soldaten von Alfred Dregger bis Zeit-Herausgeber Helmut Schmidt den Autor als Verleumder nieder, so waren viele seriöse Historiker für diese deutliche Wahrheit dankbar.

Wenn auch keine umfassende Dokumentation so zumindest doch erste Schritte zu einer wissenschaftlichen Untersuchung der Verbrechen der Wehrmacht unternimmt das Hamburger Institut für Sozialforschung seit einigen Jahren und tritt jetzt damit an die Öffentlichkeit. Nachdem bereits eine Nummer der Hauszeitschrift Mittelweg diesem Thema gewidmet war, werden nun im Hinblick auf den 50. Jahrestag des Kriegsendes 1995 mit einer Vortragsreihe und zwei Ausstellungen erste Beweise für die von der Wehrmacht zu verantwortenden Verbrechen geliefert. Dank der Öffnung der Archive im Osten exisitiert seit der Perestroika ein weit klareres Bild über alle Einzelheiten der Wehrmachtsverbrechen. Die grundsätzliche Beteiligung der Wehrmacht am Holocaust läßt sich damit, laut Hannes Heer, Wissenschaftler am Institut, ebenso eindeutig nachweisen wie die geplante Ausrottung großer Bevölkerungsteile in den eroberten Gebieten Osteuropas.

Die Vortragsreihe, die der amerikanische Militärhistoriker Michael Geyer heute um 20 Uhr mit seiner Untersuchung „Das Stigma der Gewalt-Todeserfahrung in Deutschland 1914-1960“ eröffnen wird, ist so konzipiert, daß sie vom Allgemeineren zum Speziellen hinverläuft. Die letzten Vorträge der Reihe werden dann einen konkreten Hintergrund für die zwei Ausstellungen 200 Tage und ein Jahr über die Zeit zwischen der Befreiung von Auschwitz und dem Atombombenabwurf über Hiroshima, sowie Verbrechen der Wehrmacht bilden, die im Januar bzw. März gezeigt werden. Da Forschungsarbeit zu diesem Thema hauptsächlich außerhalb Deutschlands geleistet wurde, sind die Vorträge sehr international besetzt. Weitere Informationen zu der Reihe, die sich hauptsächlich an Publikum mit Vorkenntnissen richtet, gibt das Institut für Sozialforschung (Tel: 41 40 970). Till Briegleb

Institut für Sozialforschung, Mittelweg 36, 20 Uhr