Am Rande des Nervenzusammenbruchs

■ Hunderte von Journalisten warten an der dominikanisch-haitianischen Grenze auf ihre Einreiseerlaubnis und würden die Grenzsoldaten am liebsten erwürgen

Mal Passe heißt der wichtigste Grenzübergang in den kahlen Bergen zwischen Haiti und der Dominikanischen Republik, und der Name ist gut gewählt, denn durch diese enge Pforte gelangen nur einige Auserwählte ins gelobte Land. Hunderte von Journalisten am Rande des Nervenzusammenbruchs drängen sich seit Stunden im Niemandsland, einer staubtrockenen Wüste, durch die knatternde Mopeds donnern: Für zwanzig US-Dollar pro Kopf bringen dunkelhäutige Jungen die Journalisten auf dem Rücksitz ihrer Mopeds vom Dominikanischen Grenzzaun zum Kontrollpunkt der haitianischen Armee, der stets geschlossen ist: Das Tor zum Paradies, das eher eine Hölle ist, wird von einem Posten mit umgehängtem Gewehr und Commandant Miot, einem „Attaché“ der Armee, bewacht. Der mit seiner silbernen Pistole den Journalisten vor der Nase herumfuchtelt, um ihnen unmißverständlich zu signalisieren: Hier kommt keiner durch.

Nach zermürbendem Warten an der Grenze unter tropischer Sonne, wo kein Tropfen Wasser aufzutreiben ist, geben sie den Kampf auf und kehren zum dominikanischen Grenzzaun, den sie nur durch Bestechung passieren können, und von dort nach Santo Domingo zurück, um am nächsten Morgen noch einmal ihr Glück zu versuchen.

225 Dollar kostet allein die Fahrt zur Grenze

Die fünfstündige Fahrt von hier bis zur Grenze kostet jedesmal zweihundertfünfundzwanzig Dollar pro Kopf, die Ausreise aus der Dominikanischen Republik zehn, und die Einreise nach Haiti fünfzig Dollar, Bestechungsgelder für Soldaten und Mopedfahrten nicht mitgerechnet. Um Zeit und Geld zu sparen, campieren Journalisten aus aller Herren Länder seit Tagen in der schäbigen Grenzstadt Jimany, in der Hoffnung, doch noch einen Platz auf einer mysteriösen Liste zu ergattern, die wie durch Zauberhand die Einreise nach Haiti ermöglicht: Nur wenige Reporter finden Gnade vor den strengen Blicken des Geheimdienstes und der Armee im nur eine Autostunde entfernten Port-au-Prince, das nur auf dem Umweg über Drittländer per Telefon oder Fax zu erreichen ist.

Die wartenden Journalisten sind doppelt frustriert, seit bekannt wurde, mit welch faulem Kompromiß Bill Clintons Feuerwehrmann Jimmy Carter die haitianische Militärjunta zum Gehen – oder zum Bleiben? – bewegt hat. Die bis zum 15. Oktober gesetzte Frist bedeutet für diese vor allem einen Prestigegewinn, und wer Haiti kennt, weiß, daß die Armee sich an keinen Zeitplan halten und die Rückkehr des demokratisch gewählten Präsidenten Aristide mit allen Mitteln boykottieren wird.

Die große Unbekannte in diesem Kalkül ist die hinter der UNO als Feigenblatt kaschierte amerikanische Besatzungsmacht, die nun mit klingendem Spiel in Port-au- Prince einmarschiert, um den friedlichen Übergang zur Demokratie zu sichern – ein Festakt für die Medien, der mehr Fragen aufwirft, als er beantwortet.

Bill Clintons Warnung an die noch gar nicht amtierende Regierung Aristide, es dürfe zu keinen Racheakten der Bevölkerung an den Mördern, Folterern und Vergewaltigern des Militärregimes kommen, nährt den in Haiti ohnehin weitverbreiteten Verdacht, die US-Marines seien gekommen, um die Täter vor den Opfern zu schützen: Die Militärmachthaber gehen straffrei aus und werden mit Millionen Dollars ins Exil geschickt, während das durch den Terror der Attachés und durch das Wirtschaftsembargo gebeutelte haitianische Volk sich wie immer auf der Verliererseite befindet.

Die Haiti-Krise geht aus wie das Hornberger Schießen. „Ich bin ein friedliebender Mensch“, sagt Ron, ein Zeitungsreporter aus Phoenix, Arizona, „aber diesmal hatte ich auf ein Shoot-out wie im Western gehofft. Ob die US-Marines die Attachés, die Attachés die Marines oder ob die Haitianer sich gegenseitig niederschießen, ist mir gleich. Aber ein bißchen Blut hätte ruhig fließen können.“ – „Du redest unverantwortlich daher“, hält die schwedische Journalistin Solveig ihm entgegen, die drei Tage umsonst in Mal Passe gewartet hat. „Als Pazifistin bin ich gegen jedes Blutvergießen. Aber Commandant Miot, den Attaché, der mir mit seiner silbernen Pistole vor der Nase herumgewedelt hat, hätte ich am liebsten eigenhändig erwürgt.“ Hans-Christoph Buch, Jimany