Unterirdische Überlieferung

■ Vaginaler Blütenkelch trifft phallischen Turm: Das Neue Bauen in Längs- und Querschnitten - ein Sammelband über die Quellen der "Modernen Architektur 1900 bis 1950"

Fin de siècle, und der Blick wird klar. Die Kämpfe sind ausgestanden. Die Moderne ist der moralische Sieger und wird als solcher belächelt und bestaunt. Der weiße Kasten, ihr untrügliches Symbol, ist kein Standard geworden, sondern eine Referenz. Er ist nun Teil der Geschichte, die zu überschreiten er bestimmt war: die der Architektur, der Repräsentation.

Das Projekt ist beendet, seine Beschreibung kann beginnen. Die Mitteldistanz ist es, die die Autorinnen und Autoren des Buchs „Moderne Architektur in Deutschland, 1900 bis 1950: Expressionismus und Neue Sachlichkeit“ miteinander verbindet. Produziert als Katalog der Frankfurter Ausstellung, ist ein umfangreiches Lehrbuch übriggeblieben, in dem verwandte Themen in flächendeckenden Materialsammlungen und wunderlichen Tiefenbohrungen durchkreuzt werden. Es gibt keinen Versuch, eine „expressionistische“ von einer „sachlichen“ Architektur zu trennen – sie sind, in den Biographien der Architekten-Phantasten, Teile jener gewaltigen Anstrengung, die in das irgendwie Neue mündeten. Die strategischen Operationen der damals Beteiligten – die kapitalistische gegen die sozialistische Metropole, Industriekult gegen Handwerkspathos – werden von den vierzehn AutorInnen als strategisch ausgewiesen. Mehr als eine Baugeschichte ist „Moderne Architektur in Deutschland“ Arbeit am Überbau. Die AutorInnen argumentieren ohne das Pathos der Neuerer, aber auch ohne die Häme der Postmodernen gegen die planerischen Auswüchse angeblich „rationaler“ Architektur.

Am Anfang war der Jugendstil: Die Begeisterung für den Kristall als wunderliche Fügung, die ihm zugewiesene „Identität von Mikrokosmos und Makrokosmos“ nimmt, nach Regine Prange, „das Credo des Neuen Bauens vorweg, nämlich die Forderung nach einer Entsprechung der inneren Gliederung und Funktion eines Gebäudes in seiner äußeren Gestalt. Der Fetischisierung des Kristalls“ – noch metaphorisch für den Crystal Palace in London 1851, Gestalt geworden in Bruno Tauts Glashaus auf der Werkbundausstellung in Köln 1914 – „liegt der Wunsch zugrunde, die Form zu vernichten, um sie zu finden.“ Sie soll, anstatt geerbt, umgemodelt und neuerlich ausstaffiert, gewissermaßen gegeben sein – die Idee der „natürlichen“ Form, die dann auf die abstrakter werdenden Entwürfe und Produkte übertragen wird: eine Art Pantheismus der Funktion. Auf der bizarren Schiene vom Glaspalast zur Wohnmaschine vollzieht sich der Wandel vom Expressionismus zur Neuen Sachlichkeit, aber die Konnotationen des Kristallinen – das Feierliche des Jugendstils, die Überblendung des Kubismus – leben weiter als Genotypen des schwärmerischen Neubeginns. Plötzlich ist der Kristall wieder da, wie Hans Scharouns Berliner Philharmonie.

Der Frage nach den „vormodernen“ Quellen der Modernen auf der Spur, hat Wolfgang Pehnt das wörtlich fruchtbarste Motiv gefunden, Turm und Höhle. Er untersucht den „subterrestrischen Strang der Überlieferung“ und kommt mit so überraschenden Parallelen wie dem deutschnationalen Kyffhäuser-Denkmal (realisiert 1896) und Erich Mendelsohns Einsteinturm (1917-21) – beide Bauwerke kombinieren beide Merkmale, den Höhlenbau als Ort der ortlosen Besinnung und den Turm als Element der Verkündung. Die naheliegenden sexuellen Implikationen expliziert Bruno Taut in seiner Zeichnung „Die Große Blume“ (1920): „Die Höhle ist zu einem vaginalen Blütenkelch geworden, der Lichtturm – zugleich ein Sonnenkraftwerk – zu einem Phallus, mit dem sich die Vorstellung von Lebenskraft und Regeneration verbindet.“ Die Höhle, in der Stadt naturgemäß nicht verfügbar, wird kunstvoll wiedererrichtet im Theater und vor allem im Kino, während das Hochhaus mit der Tradition des Turmes bricht: „... horizontale Gliederung und Breitfenster selbst in luftigen Höhen“. Die Hochhausscheibe macht, so Pehnt, „dem Turm im eigentlichen Sinne Konkurrenz“; die Jungsche Archetypenlehre wird nicht mehr bedient.

Kristall, Höhle, Tempel, Maschine: Die Möglichkeiten der Architektur, Sinnbilder wirklich werden zu lassen oder Metaphorisches (zum Beispiel) im Grundriß bis an die Grenze der Unsichtbarkeit zu versenken, machen die Selbstinterpretationen von Architekten so schwierig zu lesen. Die genaueste Analyse einer Selbstinszenierung liefert Stanislaus von Moos anhand von Charles-Edouard Jeanneret- Gris, der als Le Corbusier sämtliche Register zieht, um sich als Modernist des Jahrhunderts abzugrenzen gegen jene Quellen, aus denen er sich speist: Seine feindliche Interpretation des düsteren Deutschen ist, so von Moos, „gerade aus deutscher Sicht wenig originell“, und seine Kritik am Expressionismus wird mit der „vollzogenen teilweisen Bekehrung“ im Spätwerk brüchig. Der Formalismusvorwurf gegen das Bauhaus (dargelegt in der Zeitschrift Esprit Nouveau im Dezember 1923) „mußte sich ... früher oder später gegen ihn selber kehren“; einerseits. Andererseits wurde seine Schwärmerei für „Dampfer, Automobile und Flugzeuge als Ikonen der neuen Zeit“ als „Maschinenromantik“ gelesen: das Schönste, die gebogenen Fronten, waren den Kritikern Le Corbusiers Zeichen seiner Unfähigkeit, sich von Bildern loszusagen.

Die Aufsätze zu den umgreifenden Fragen der Städteplanung – der Politik – sind im Vergleich sehr allgemein gehalten, machen aber klar, wie die Geschichte der Architektur und die Geschichte des Gebauten sich unterscheiden: vor allem in Deutschland, wo der nationalsozialistische Staat das Bauen an sich reißt.

Allerdings sind auch Speer und seine Leute nicht frei von den Ideen einer industriellen Moderne; gerade in der Entideologisierung der Städteplanung, die sich nach 1936 abzeichnet, gewinnen die ehemals doktrinär verkündeten Gedanken wieder an Boden: Die alten Baumeister sind vertrieben, aber das Neue Bauen hat – auch – fußgefaßt. Hitler, der auch nicht von gestern sein möchte, beschimpft reaktionäre Architekten wie Paul Schultze-Naumburg als „Rückwärtse“. Und der Mann wollte auch nicht von gestern sein.

Zweierlei ist an dem Buch zu bemängeln: die durchlaufenden Marginalien sind ein recht übertriebenes Forum für die doch eher spärlichen Illustrationen. Und es fehlen kurze Biographien der Architekten (tatsächlich – ein Genre von Männern, damals). Schließlich ist das Buch bestens geeignet für einen Einstieg, aber wer Schüler von wem war, wann emigrierte (oder nicht) und wann starb, hätte man auf einen Blick gern beisammengehabt. Ulf Erdmann Ziegler

V. M. Lampugnani und R. Schneider (Hrsg.): „Moderne Architektur in Deutschland 1900 bis 1950. Expressionismus und Neue Sachlichkeit“. 352 Seiten, 433 Abbildungen. Verlag Gerd Hatje, Stuttgart 1994, 128 Mark.