■ Nach dem Einmarsch der US-Armee in Haiti
: „Dies ist keine Invasion!“

Die wie das Hornberger Schießen ausgehende Krise in und um Haiti hat die an grausamen Absurditäten nicht arme Geschichte des Karibikstaats um eine neue Variante bereichert: den „friedlichen Krieg“. „Ceci n'est pas une pipe“ (dies ist keine Pfeife), lautete die Bildunterschrift unter einem berühmten Gemälde von Magritte, auf dem eine Pfeife zu sehen war. „Ceci n'est pas une invasion!“: Dies ist keine Invasion! Mit diesem aus Kampfhubschraubern donnernden Ruf, von Lautsprechern bis zur Schmerzgrenze verstärkt, wurden die Bewohner von Port-au-Prince vorgestern aus dem Schlaf geweckt. „Wir sind keine Besatzungsmacht“, sagte der Oberbefehlshaber der Invasionsstreitkräfte, General Henry Shelton, nachdem das 3.000 Mann starke erste Kontingent der Besatzungsmacht, ohne einen Schuß abzufeuern, auf Haiti gelandet und von der Bevölkerung jubelnd begrüßt worden war. Die bislang einzigen Opfer der Operation Uphold Democracy waren amerikanische GIs, denen die ungewohnte Hitze und der Durst zu schaffen machten. Juntachef Raoul Cédras, der vor kurzem noch bis zum letzten Blutstropfen gegen die Invasoren kämpfen wollte, äußerte sich besorgt über die Gesundheit der US-Marines, die für seine Sicherheit sorgen sollen, indem sie ihn vor seinem eigenen Volk beschützen.

Ruhe ist die erste Bürgerpflicht, so lautet Haitis erste Lektion in Sachen Demokratie: Mitleid mit den Tätern, nicht mit den Opfern der Diktatur ist angesagt. Die nordamerikanischen Schiedsrichter vergessen dabei, daß Demokratie zwar nichts mit Rache, dafür aber sehr viel mit Gerechtigkeit zu tun hat; für die Dritte Welt gelten offenbar andere Maßstäbe als daheim in Washington. Währenddessen diskutiert Yannick Cédras, die ihren Mann zum Einlenken überredet haben soll, im Generalstab der haitianischen Armee vor laufenden Fernsehkameras die neuesten Nachrichten von der Front. C'est une drôle de guerre: ein Krieg, der, je nachdem, welche Rechnung aufgemacht wird, 500 Millionen Dollar oder gar nichts gekostet haben soll. Die Anhänger der Nullösung versichern glaubhaft, daß Soldaten auch in Friedenszeiten ernährt, gekleidet, bewaffnet und irgendwohin in Marsch gesetzt werden müssen, aber diese Milchmädchenlogik hat mehr mit Voodoo als mit höherer Mathematik zu tun. Das einzige, was die Pentagon-Strategen bei ihrem karibischen Großmanöver stört, ist, daß sie ihre, wie es treffend heißt, hochintelligenten neuen Waffensysteme nicht unter Gefechtsbedingungen ausprobieren können.

Aber was nicht ist, kann ja noch werden. „Haiti ist das einzige Land der Welt, in dem der Surrealismus nicht bloß eine künstlerische Idee, sondern gelebte Wirklichkeit ist“, schrieb der Stammvater der französischen Surrealisten, André Breton, nach seinem Besuch des Inselstaats 1946, der dort prompt eine Revolution auslöste. Dem ist nichts hinzuzufügen, bis auf die banale Feststellung, daß die meisten Kriege zur Verteidigung des Friedens und der Freiheit geführt werden, so lange, bis Mittel und Zweck die Plätze tauschen und das eine den andern Lügen straft. Hans Christoph Buch