Massenfolklore

1860 München – Bayern München 1:3 / Hau-den-Lukas im verseuchten Stadion  ■ Aus München Gerhard Pfeil

Ein schnelles Bierchen hatte sich der kleine Mann schon hinters Bäffchen gekippt, der Kummer mußte schließlich ersäuft werden. Was gibt es auch Schlimmeres, als gegen den FC Bayern München zu verlieren – noch ein Pils – vor allem, wenn man mit dem TSV 1860 München gegen den FC Bayern verliert – „Bedienung!!“ – und dann auch noch vorzeitig vom Platz fliegt ... – „ich glaube, ich nehm' noch eins“, sprach Manfred Schwabl.

Ein Bayer im Vollrausch, weite Teile von München am Rande des Nervenzusammenbruchs, der rote Rest (fußballtechnisch gesehen) am Gipfel der Glückseligkeit. 1860 hat gegen den FC Bayern verloren. 1:3 unterlagen die Kraftkicker aus dem Arbeiterviertel Giesing den Fönwellen-Yuppies aus dem noblen Harlaching im 180. Derby. Die, die fast immer unten waren, darben weiter im Keller, die oben klettern weiter empor. Was für ein Leben – die Welt bleibt ungerecht.

Lokalderbys sowieso. Es ist nämlich so, daß der FC Bayern nur mit zehn Mann gespielt hat, was gemeinhin als Vorteil für den Kontrahenten gewertet wird, in diesem Fall aber nicht stimmt. Eigentümliche Begebenheiten spielten sich ab im Olympiastadion, „diesem verseuchten Ding“, wie 1860-Übungsleiter Werner Lorant befand: „Als die Bayern noch zu elft waren, haben wir uns leichter getan, danach waren sie einfach cleverer.“

Verflixter Fußballsport. Jetzt ist schon der der Gewiefte, der eigentlich der Depp sein sollte. Womit sich zeigt: diese Art der Leibesübung ist einfach ungerecht. Was kann schon der Störzenhofecker Armin (1860) dafür, daß ihm Kontrahent Nerlinger (FC Bayern) dämlich auf den Schlappen tritt (31.) und anschließend gelb-rot dafür sieht, obschon „daß doch keine Absicht war“, wie Metzger Störzenhofecker hinterher versicherte. „Danach war es für uns wirklich einfacher“, resümierte Bayern- Coach Giovanni Trapattoni erstaunt. Ein Mann weniger, alles ging einfacher, „weil wir uns mehr bewegen mußten“.

Hurra und Glückwunsch zu dem genialen Coup. Fürwahr ackerten die Bayern nach Nerlingers segenbringendem Malheur wie irre, Angreifer Sutter umkurvte geschickt die Abrißbirnen in der 1860-Verteidigung und ließ sie mithin ins Leere hämmern. „Was der wegrannte, war schon super“, schwärmte Löwen-Präsident Karl-Heinz Wildmoser, dem sie wegen seiner Bayern-Mitgliedschaft ohnehin Verrat unterstellen. Lorant indes tobte: „Die haben mehr gemacht, das kann doch nicht sein.“

Eben doch, Ziege und Witeczek kombinierten sich durchs Grätscherdickicht, ersterer wuchtete den Ball zum 2:0 ins Netz (55.), „weil ich mir beim Bäcker nicht nachsagen lassen will, Ihr habt gegen die Sechziger verloren“. Abermals ein Treffer gegen die Gerechtigkeit. Denn „immer wenn wir dran waren“, klagte Lorant, „haben wir eins draufbekommen“.

Nein, es konnte nicht gutgehen für 1860 an diesem Abend, vielleicht stand der Mond falsch, oder es tat einfach keiner wie ihm geheißen. 1860-Stürmer Winkler zum Beispiel. Der sollte „die Fresse halten“ (Lorant), titulierte den Linienrichter aber doch als „blinde Sau“. Die „haben wir hier nicht“, sprach Schiedsrichter Krug und beorderte die Plaudertasche vom Feld, derweil Sechzig-Kapitän Trares die Welt nicht mehr verstand: „In einem Derby geht es eben hitzig zu, da muß man Fingerspitzengefühl beweisen.“ Wohl gesprochen.

Tagelang haben die verfeindeten Lager die Landeshauptstadt dem Ausnahmezustand nahegebracht. Eine örtliche Radiostation riskierte gar eine Revolte unter den Roten, weil sie vor dem Derby noch mutig Karten auslobte für jene, die den heftigsten Anti- Bayern-Spruch über den Sender jagten. (Gewinner: „Die Idioten hauen wir 10:0 weg, basta.“) Doch Krug hatte kein Einsehen mit dem Sonderstatus. Schwabl hebelte Witeczek aus und bekam dafür die rote Karte. „Sind wir hier beim Damenfußball“, wunderte sich Lorant über die rigide Strafe für „ein Allerweltsfoul“ (Schwabl), während der Bayern-Stürmer den Schwerverletzten mimte, wenngleich ohne Erfolg: „Daß der sich gleich auf die Bahre legen mußte, war wirklich der Witz“ (Schwabl).

Hau-den-Lukas vor 62.000 Enthemmten boten 1860 und der FC Bayern. Grasbüschel flogen, Stürmer stürzten. Am Trikot zerrte Babbel den Pacult elfmeterreif. Der Gestrauchelte verwandelte prompt (78.), doch es half nichts, weil Bayern-Reservist Zickler acht Minuten darauf ins Tor traf. Ende der rustikalen Massenfolklore.

Nicht ganz. „Im Grünwalder Stadion wäre es anders gelaufen“, mutmaßte Wildmoser, der 1860-Lederhosenpotentat, hinterher. Recht hat er. Beim nächsten Mal wird alles anders. Dann spielt 1860 mit zehn Mann und die Bayern kriegen drei Stück.

Bayern München: Kahn - Matthäus - Helmer, Babbel - Frey, Schupp (74. Zickler), Nerlinger, Ziege, Sutter - Mazinho (35. Hamann), Witeczek

Zuschauer: 62.000; Tore: 0:1 Schupp (32.), 0:2 Ziege (56.) 1:2 Pacult (78./Foulelfmeter), 1:3 Zickler (87.)

1860 München: Meier - Schmidt - Strogies (79. Stevic), Kutschera - Störzenhofecker, Trares, Schwabl, Yanyali, Nowak - Pacult, Winkler