Den einzelnen Baum anschauen

„Naturgemäße“ Waldwirtschaft gewinnt immer mehr an Boden / Umweltbedingte Streßfaktoren setzen dem Industriewald mächtig zu  ■ Von Vivianne Agena

Es riecht nach Moos. Über dem Boden kreuchen und fleuchen Spinnen, Ameisen und Käfer kunterbunt durcheinander. Wohin das Auge schaut, grünt und lebt es. „Wenn ein Wald hingegen dunkel ist, und nichts auf dem Boden wächst, kann man davon ausgehen, daß dort noch keine Waldwende stattgefunden hat“, sagt Wolfgang Freiherr von Wolff-Metternich, Waldbesitzer im Weserbergland. Schon ein Laie kann sehen, daß er seinen Wald nicht nach herkömmlichen Forstwirtschaftsregeln bewirtschaftet, sondern nach den Prinzipien der Arbeitsgemeinschaft naturgemäße Waldwirtschaft (ANW).

Die traditionelle Forstwirtschaft befindet sich im Wandel. Windwurf, Insektenbefall oder bestimmte Witterungsextreme haben dem künstlichen Wald stark zugesetzt. Die in Reih und Glied gepflanzten Fichten kippten bei den Stürmen „Wiebke“ und „Vivien“ 1990 wie Dominosteine um. Mit dem großflächigen Kahlschlag wurde zwar schon vor Jahren Schluß gemacht, aber die Ideen der naturgemäßen Waldwirtschaft sind in der Praxis immer noch revolutionär.

Zur Gründung der Arbeitsgemeinschaft trat 1950 die Avantgarde der Försterszene zusammen. Noch immer werden ihre Protagonisten mitunter als „grüne Spinner“ beschimpft, obwohl ihre Wirtschaftsformen von Mischbeständen und Naturverjüngung heute weitgehend in die Landesprogramme für Forstwirtschaft eingegangen sind. Aber den endgültigen Durchbruch haben sie noch nicht geschafft.

Freiherr von Wolff-Metternich und Hermann Graf Hatzfeldt sind zwei der bundesweit 2.500 ANW- Mitglieder. Noch immer sind 47 Prozent des Waldes im Besitz von Privatpersonen, vornehmlich derer von Adel. Die Privatwirtschafter wollen von ihrem Wald leben, und sie haben festgestellt, daß der naturnahe Wald ihre Existenz langfristig sichert.

Das Grundprinzip der naturgemäßen Waldwirtschaft wurde schon im Mittelalter angewandt. In ihren sogenannten Plenterwäldern kümmerten sich die Förster mit Sorgfalt um jeden einzelnen Baum und ernteten nur die dicksten Stämme. So blieb stets eine Zwischenschicht von kleinen Bäumen verschiedenster Arten unter dem Kronendach stehen, und es entstand Platz genug für eine natürliche Aussamung der Pflanzen ringsherum.

Die sogenannte traditionelle Forstwirtschaft wich von diesem Prinzip ab, indem sie durch Kahlschlag und anschließende Nachpflanzung den Altersklassenwald schuf. Damit hoffte man, gleichmäßig große Flächen der erntereifen Bäume eines Bestandes mit Maschinen zu holen. Zur Hochzeit der großen Flurbereinigungen in den 60er und 70er Jahren wütete die Motorsäge in den angelegten Fichtenwäldern, bis nichts mehr übrigblieb. Die meisten der bundesweit 30.000 FörsterInnen wissen heute: Das war Blödsinn. „Aber das Umdenken geht nur langsam vonstatten. Der Förster ist gewohnt, in langen Zeiträumen zu denken“, spöttelt Wolff-Metternich.

Das Denken in Produktionszeiträumen von mehreren hundert Jahren erschwert in der Tat eine gezielte Mengenanpassung an den Bedarf des Marktes. Die Fichte wächst am schnellsten, mit 80 Jahren kann sie gefällt werden; die Buche braucht 140 Jahre, und die Eiche hat mit 180 Jahren den langsamsten Reifeprozeß. Obwohl die Fichte in den meisten Gebieten Deutschlands kein standortgemäßer Baum ist, gilt er noch als „Brotbaum“ und hat einen Flächenanteil von 32 Prozent des deutschen Waldes. Nach dem Krieg wurde vor allem Fichte angebaut, um Bauholz zu erhalten. Auf rund 70 Prozent der Waldfläche wachsen Nadelhölzer. Auf 90 Prozent der deutschen Waldfläche – ein Drittel der Gesamtfläche des Landes – wachsen nur fünf Baumarten: Fichte, Kiefer, Eiche, Buche und die amerikanische Douglasie.

Das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten beurteilt die wirtschaftliche Situation der Forstbetriebe gegenwärtig als kritisch. „Die Holzpreise liegen dieses Jahr auf der gleichen Preisstufe wie 1958“, stöhnt auch Wolff-Metternich. Außerdem mache die um ein Drittel billigere Fichte aus den gigantischen Kahlschlaggebieten Sibiriens zur Zeit den Markt kaputt.

In dieser wirtschaftlich schwierigen Zeit geraten die Mitarbeiter der staatlichen Forstverwaltungen über die Forderung nach der – vor allem zu Anfang personell aufwendigen – naturgemäßen Waldwirtschaft in Wallung. Doch die Einsicht wächst auch bei den Ämtern: Die FörsterInnen müssen sich intensiver um den Wald kümmern und jeden Baum anschauen. „Wir entwickeln regelrechte Beobachtungsprogramme, denn die Waldwirtschaft ist durch die vielen umweltbedingten Streßfaktoren ohnehin wesentlich komplexer geworden“, sagt Mark Zietz vom Landesforstamt Berlin, das den Wald am Rande der Großstadt nach ANW-Kriterien bewirtschaftet.

Da es nicht in der Macht der FörsterInnen steht, die Schadstoffbelastung zu vermindern, versuchen sie, den Umweltschäden mit der Erhaltung eines möglichst naturnahen Waldökosystems zu begegnen. Naturschützende Maßnahmen wie das Stehenlassen von Totholz für den Specht und allerlei Insekten sowie das Anlegen von Tümpeln und eine abwechslungsreiche Waldrandgestaltung gehören zu den Prinzipien der Arbeitsgemeinschaft. Das sieht nicht nur schön aus, sondern stabilisiert das Ökosystem.

Zudem zerbrechen sich die FörsterInnen den Kopf über das überzählige Wild. Für die Jäger ist die Jagd meist nur ein Hobby. „Sie schießen einfach zuwenig“, entrüstet sich die Försterin Anne Merg- Thomas, Vertreterin des 120 Frauen starken Forstfrauenvereins. Das Wild frißt die frischen Triebe oder schält die zarte Rinde der jungen Bäume ab. Einzige Maßnahme dagegen war bisher eine kostenaufwendige Umzäunung. Wolff-Metternich und Graf Hatzfeldt verlangen daher eine deutliche Verlängerung der Jagdzeit auf Rehböcke. Den Jägern gehe es aber vorrangig nur um die Trophäen, die sie an die Wand nageln wollen. Und gehörnt läuft der Rehbock nun mal nur bis zum Herbst herum.

Wald hat nicht nur für Jäger fast mythische Bedeutung. Nur vier Prozent der Bevölkerung habe kein Interesse daran, im Wald zu wandern, fanden Wissenschaftler für den Nationalen Waldbericht heraus. Zu der wirtschaftlich nicht meßbaren Größe der Erholung gesellt sich die ebenfalls nicht meßbare ökologische Bedeutung. Die Schutzfunktionen des Waldes sind vielfältig: Wasserschutz (Filter- und Rückhaltewirkung), Immissionsschutz gegen Luftschadstoffe sowie Lärm-, Klima-, Boden- und Erosionsschutz, zudem Landschafts-, Biotop- und Artenschutz.

Hermann Graf Hatzfeldt propagiert die Kohlendioxid- oder Energiesteuer, um damit auch den Erhalt der Wälder zu finanzieren. Wenn durch diese Steuer der Energie- und Ressourcenverbrauch in die Produktpreise einbezogen würde, wäre Holz wieder konkurrenzlos billig. In der Umweltbilanz sei Holz ohnehin unschlagbar, sagt Hatzfeldt. Der Energieverbrauch bei der Produktion ist gering (bei Zement ist er vierfach so hoch, bei Kunststoff sechsfach, bei Stahl 24fach) und die Abfallentsorgung völlig unproblematisch. Auch durch Förderprogramme könne die Waldwende unterstützt werden. Der Nationale Waldbericht betont ausdrücklich, daß solche Maßnahmen gefördert werden, „die dem Ziel einer naturnahen Waldbewirtschaftung dienen“. Vielleicht wird so die Vision einiger ANWlerInnen wahr, daß unsere Nachfahren in hundert Jahren wieder durch grünbelaubte Urwälder wandern.