„Das ganze deutsche Volk getroffen“

Die Unionsmehrheit im Deutschen Bundestag zerfleddert das Karlsruher Soldaten-Urteil und verweigert zugleich Deserteuren der Nazi-Armee die Rehabilitierung  ■ Aus Bonn Hans Monath

Zur besten Sendezeit, rechtzeitig vor den 19-Uhr-Nachrichten, lief am Mittwoch im Bundestag die Debatte über das Karlsruher Urteil über den Aufkleber „Soldaten sind Mörder“. Fünf Stunden später, im Windschatten der Medienaufmerksamkeit, scheiterte am gleichen Ort der Versuch, Todesurteile der Nazi-Justiz gegen Deserteure und sogenannte Wehrkraftzersetzer pauschal für rechtswidrig zu erklären.

Gröber als der Verteidigungsminister kommentierte am nächsten Tag nur die Bild-Zeitung das Karlsruher Urteil zum Tucholsky- Zitat: „Mit Billigung des Bundesverfassungsgerichts darf jetzt jeder meinen Sohn und seine Kameraden als Mörder bezeichnen“, schrieb dort ein vermeintlich betroffener Soldatenvater. Genau diese Fehlinterpretation hatte auch Volker Rühe am Abend zuvor im Bundestag in die Köpfe der Zuhörer gehämmert.

Allein mit der Wirkung des Urteils setzte sich Rühe auseinander, auf dessen Inhalt ging er bei seiner verdeckten Urteilsschelte nicht ein. Daß es den Richtern um die Meinungsfreiheit ging, daß sie keinen Freibrief für die Schmähung von Bundeswehrsoldaten als Mörder ausgestellt hatten, war für den Minister kein Thema.

Rühes Fehlinterpretation gab ihm Gelegenheit, sich schützend vor die angeblich Angegriffenen zu stellen. Der Mörder-Vorwurf treffe das „ganze deutsche Volk“ und den Bundestag, denn diese würden den Soldaten schließlich die Aufträge erteilen. „Wer Soldaten als Mörder verunglimpft“, so bastelte der Minister einen kühnen Vergleich, „spricht dieselbe verabscheuungswürdige Sprache wie jemand, der Ausländer verunglimpft.“ Die Rede gipfelte in dem Satz: „Das ist ein politischer Skandal, und deshalb müssen wir uns alle vor die Soldaten stellen.“

Das tat der Bundestag denn auch, indem er mit den Stimmen der Koalition eine Resolution verabschiedete. Zuvor aber durfte noch FDP-Zugpferd Hans-Dietrich Genscher dem Verteidigungsminister beim Papiertiger-Bashing assistieren und drei Wochen vor der Bundestagswahl an seine 18jährige Amtszeit als Außenminister erinnern: „Diese Politik wäre nicht möglich gewesen ohne die Bundeswehr. Dafür möchte ich ihr heute danken.“

Die Oppositionsredner erst hielten Urteil und Auslegung der Regierung auseinander. Von einer „Verkehrung des Tatbestandes“ sprach Wolfgang Ullmann (Bündnis 90/Die Grünen) und Jürgen Schmude (SPD), mahnte, die Mißverständnisse nicht noch zu schüren, stellte sich aber „Beschimpfungen wie dem Mordvorwurf“ entgegen. SPD-Chef Rudolf Scharping hatte in einem Interview das Urteil attackiert, Herta Däubler-Gmelin (SPD) die Richter im Rundfunk ausdrücklich gelobt.

Wer im „Dritten Reich“ wegen Desertion, Wehrkraftzersetzung oder Wehrkraftverweigerung verurteilt wurde, muß auch weiterhin auf eine volle Rehabilitierung warten. Die Union sorgte am späten Abend in der letzten Sitzung des Bundestags in dieser Legislaturperiode dafür, daß ein entsprechender Antrag der SPD an den Rechtsausschuß zurückverwiesen wurde.

Die Union will lediglich einer Einzelfallprüfung zustimmen. Diese wird von den wenigen überlebenden Verurteilten, der SPD, den Bündnisgrünen, der PDS und einzelnen FDP-Abgeordneten aber als ungenügend abgelehnt. Klaus-Heiner Lehne (CDU) sprach zwar von einem „verbrecherischen Angriffskrieg“, warnte aber davor, alle deutschen Soldaten würden ins Unrecht gesetzt, wenn die Urteile pauschal für rechtswidrig erklärt würden.

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