Lieber Fußballer als Politiker

■ Ein Interview mit Jewgeni Jewtuschenko, dem würdig alternden zornigen jungen Mann der russischen Literatur, über seine kurze Karriere als Parlamentsabgeordneter, Michail Gorbatschows Angst vor der Macht, ...

Jewgeni Jewtuschenko, 1933 in Sibirien geborener Schriftsteller, Fußballer, Journalist, Übersetzer, Schauspieler, Regisseur, Weltreisender, Frauenverehrer und Sektliebhaber, meldet sich wieder zu Wort. Jewtuschenkos Werk ist in 72 Sprachen übersetzt. Er verlor beide Großväter während der stalinistischen Säuberungen. Er schickte 1968 wegen des Einmarschs der sowjetischen Truppen in die ČSSR ein Protesttelegramm an Breschnew und setzte sich offen für Sacharow und Solschenizyn ein, als an Perestroika noch nicht zu denken war. Jewtuschenkos autobiographischer Roman „Stirb nicht vor deiner Zeit“ ist gerade im Europaverlag erschienen.

taz: Boris Jelzin wollte Sie nach dem Putsch von 1991 als Minister für Kultur an seine Seite holen. Warum haben Sie abgelehnt?

Jewtuschenko: Das Angebot kam nicht von Jelzin selbst, sondern von ein paar Abgeordneten. Ich war von 1988 bis 1991 Parlamentsabgeordneter, als wir anstelle von Politikern nur Marionetten hatten. Das Parlament bestand faktisch aus Schriftstellern und Wissenschaftlern, weil damals nur die von der Bevölkerung respektiert wurden. Die Zeit als Parlamentarier war für mich eine großartige Erfahrung: Wir beendeten den Krieg in Afghanistan, setzten Glasnost um, schafften die Zensur ab. Berufspolitiker zu sein bedeutet jedoch, um die Macht zu kämpfen. Das wollte ich nicht. Ich wollte auch keine Menschen beherrschen. Ich wollte nicht zu diesem (auf deutsch:)Pack gehören und für alles verantwortlich sein. Politiker sind Sklaven ihrer Macht. Ich habe das im Kapitel über Gorbatschow beschrieben.

Sie schreiben, Gorbatschow wurde Politiker, weil er sich aus der Angst vor der Macht in ihr Zentrum retten wollte.

Oh, Sie haben das Buch ja tatsächlich gelesen! Nun, Künstler und Schriftsteller sollten eher eine Art moralischer Kontrolle über die Gesellschaft ausüben. Wenn Künstler sich auf Regierungsstrukturen, auf Macht einlassen, dann tötet das ihr poetisches Vermögen. Balzac hatte das größte Wissen über die Geschäftswelt seiner Zeit. Als er selbst Geschäfte machte, ging er bankrott. Genau so geht es Schriftstellern.

Sie durften schon in den Sechzigern reisen, haben zwischen 1991 und 1993 an den Universitäten von New York, Philadelphia und Tulsa russische Literatur gelehrt und dort sehr bequem gelebt. Warum sind Sie immer wieder nach Rußland zurückgekehrt?

Ich bewundere Tulsa! Ich bin dort Ehrenbürger und werde immer wieder hinfahren. Ich reise schrecklich gern. Aber ich bleibe Russe, Sibirier! Ich bin wie ein Baum, oben breit, aber mit tiefen Wurzeln. Nur wenn man gut verwurzelt ist, können die Zweige wuchern. Außerdem ist es eine Legende, daß die Russen die Dichtung vergessen haben. Sie lieben mich noch. Mein neues Buch hat dort eine Auflage von 98.000 Exemplaren – phantastisch in diesen Zeiten der von neuen „Buziness“- Men geschmacklos ausgewählten und edierten billigen Schundliteratur. Das Land von Dostojewski und Tolstoi ist voll von Konsalik!

Das nennen Sie die „McDonaldisierung“ der Kultur.

Genau. Aber jetzt liegt dieser Schund als Ladenhüter rum. Der Run auf die sogenannten verbotenen Früchte ist vorbei! Rußland ist wie ein riesengroßer Bär in Bastschuhen, der sich extrem langsam bewegt. Es hat eben lange gedauert, bis diese (auf deutsch:) Scheiße in Rußland überhaupt gedruckt wurde. Genauso ist es mit den Kinos: Die verkaufen jetzt gerade mal zehn Prozent Karten für Mist wie Chuck Norris.

Liegt das nicht eher an der Armut der Leute?

Nein. Das ist keine Frage des Geldes. Das Vulgäre hat seine Schuldigkeit getan, außer für ein paar drogenliebende Zombies. Ich habe es in Sibirien erlebt: Die Russen sehnen sich nach guter russischer Literatur, und wenn irgendwo welche verlegt wird, kaufen sie die sofort. Die Literatur ist Opfer dieses „wild capitalism“.

Ihr neuer Roman handelt weitgehend vom Putsch im August 1991. Darin steht das Volk ungerührt Schlange vor McDonalds, als die Panzer rollen. Halten Sie die sogenannten einfachen Leute nicht für politikfähig?

Ich beschreibe unterschiedliche Leute, indifferente, ignorante, aber auch ängstliche – wie Salysin, einen heruntergekommenen Fußballstar, der dann über sich hinauswächst. Ich bin auch ein Angsthase. Ich habe fünf Söhne, man hätte mich töten können! Glücklicherweise hätten diese alten Generäle mit ihrem professionellen militärischen Bewußtsein nie zugelassen, daß man über die Leichen von Landsleuten geht. Es war sowieso vorbei, als Jelzin um 11 Uhr auf den Panzer stieg. Viele Leute dachten, er ist die Lösung, weil Rußland überhaupt keine Tradition in Demokratie hat. Es war überaus heroisch, daß Journalisten aus dem besetzten Fernsehsender die Bilder des Putsches zeigten. Ich beschreibe unterschiedliches Verhalten.

Die Erschießung der Zarenfamilie 1918, der fünf kleinen Kinder von Nikolaus II. und des Hausarztes zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch. Warum?

Diese unglaublichen Grausamkeiten tun mir leid. Die Bolschewiken haben sich ihr eigenes Grab geschaufelt, als sie auf den Körpern der toten Kinder herumtraten. Es war ein Verbrechen. Andererseits ist die gegenwärtige Tendenz, die Zarenfamilie zu idealisieren, gegen die Geschichte. Nikolaus II. war Opfer, aber wie viele Opfer hat er selbst hinterlassen!

Schmerzt es Sie, daß der Gang der Geschichte die Russen letztlich als Verlierer dastehen läßt?

Das ist zwar unglaublich schmerzhaft, aber ich habe Rußland schon in schwierigeren Momenten erlebt. Es tur mir weh, zu sehen, wie sich Leute zerfleischen, die im Zweiten Weltkrieg Schulter an Schulter gekämpft haben. Wie Leute, die einst gegen Korruption vorgingen, jetzt selber korrupt sind. Wenn es von mir abhinge, würde ich nur Leute zu Staatsmännern machen, die gar keine sein möchten. Leute, die keinen Durst nach Macht haben und gar nicht in diesen klebrigen Kreis wollen. Die Tragödie ist leider, daß die wirklich integren Leute nichts mit Politik zu tun haben wollen. Wie ich! Der beste Mann in unserem Parlament war Sacharow. Er war ein schlechter Redner, sehr höflich – er unterbrach andere nie – und sah viel zu zart aus, mit diesem Gänseflaum auf dem Kopf. Er war der sanfteste Kämpfer. Ich habe ihn geliebt! Ein Mensch, der die Schmerzen der anderen mitlitt und von politischen Beratern betrogen wurde. Blutige Psychologie!

Worin liegt denn das Dilemma des sozialistischen Untergangs?

Marx und Engels waren Perfektionisten, die an die Möglichkeit von vollkommenen Menschen glaubten. Auch Lenin dachte, daß die Menschen zwar mit Defekten behaftet sind, man sie aber um ihres Glücks willen zwingen muß, perfekt zu sein. Im Namen der Perfektion sind die grausamsten Verbrechen begangen, die schlimmsten Instrumente erfunden worden, wie etwa das berüchtigte Staatsgefängnis Ljubjanka. Ich würde mein Leben daran geben, um die Gefängnisse der Welt abzuschaffen. Wir müssen erkennen, daß wir verdammt sind, unvollkommen zu sein.

Noch mehr „blutige Psychologie“. Ihr Buch ist ja sehr autobiographisch. Sie waren viermal verheiratet. Was lieben Sie so an den Frauen?

Halt, halt! Ich BIN gerade zum vierten Mal verheiratet. Die vierte Ehe ist doch noch gar nicht vorbei!

Pardon. Also die Frauen. In Ihrem Buch sind die Frauen, Alwetina und Bötchen, stark, außerordentlich liebesfähig und dennoch unabhängig. Wie das?

Wenn mich eine Frau anbeten würde, würde ich auf der Stelle verschwinden. Ich verachte aber auch Männer, die von „ihrem Typ Frau“ sprechen. Wegen des Wortes „Typ“. Frauen sind doch keine Kleidungstücke oder Nahrungsmittel! Jede ist doch von Mutter Natur in einer einmaligen Ausgabe geschaffen. Als ich mit der Engländerin Jane Butler verheiratet war, wurde mir von den Russen vorgeworfen, nicht unter den Töchtern des Landes gewählt zu haben. Aber ich habe nur Jane geheiratet und nicht die Engländerin. Für die Scheidungen nehme ich alle Schuld auf mich. In 99 Prozent der Fälle sind die Männer schuld an Scheidungen.

Warum?

Wenn Frauen lieben, folgen Sie ihrem Mutterinstinkt. Ein Mann kann gut und gern vierzig Jahre lieben, zeugen. Eine Frau liebt in der Liebe die Mutterschaft. Männer haben Angst vor der Liebe. Sie kommen sich schnell dumm und banal vor, wenn Sie Gefühle bekennen sollen. Selbst Männern, die lieben, kommt das nicht über die Lippen. (Lacht:) Ich bin bei Gott heilfroh, daß ich mir eine gewisse dumme Sentimentalität bewahrt habe. Viele Männer erscheinen auch gern kompliziert. Frauen betrügen Männer nur aus Revanche. Männer betrügen Frauen aus sexueller Neugier.

Das wird Ihnen den Zorn der Feministinnen einbringen.

Ich hasse männlichen Chauvinismus. Feminismus sehe ich so: Wenn er sich nicht von innen zu einem weiblicheren, (auf russisch:) fraulicheren Bild bekennt, bleibt er in seinem Ursprung stecken – der Selbstverteidigung gegen männliche Dominanz. Na, ich bin ja nicht besonders gebildet.

Was ist Ihr Wunsch für Rußland und für sich selbst?

Im Russischen gibt es keine Mehrzahl für das Wort Scham. Ich möchte mich für mein Leben und für mein Land nie schämen müssen. Ich möchte mich nicht für die Berufspolitiker schämen müssen. Mein geheimer Wunsch ist es, sogar mal einen Berufspolitiker lieben zu können.

Aber Sie waren doch mit Gorbatschow und Jelzin befreundet?

Sehen Sie – die haben in einer bestimmten geschichtlichen Situation gute Arbeit geleistet. Ich will nicht grausam sein, aber Gorbatschow ist erledigt und dürfte sich derzeit in ziemlich mieser Laune befinden. In Rußland wird er beschimpft. Aber damit ist sein Leben nicht zu Ende. Von Jelzin hoffe ich, daß er sein Gesicht wahrt und den Jungen ihren Platz in der russischen Politik einräumt. Wie die sich aufführen, wird man sehen. Ich bin kein Hellseher, nur ein Mensch mit Augen und Herz. In jeder Situation bieten sich wie im Schach mehrere Lösungen an. Wie Antonio Gramsci sagte: Meiner Erfahrung nach bin ich Pessimist, meinen Handlungen zufolge Optimist. Wir können unseren jungen Leuten nicht falschen Optimismus vorgaukeln, sonst stoßen wir sie in den Abgrund. Eine Tragödie, daß die Welt sich in technischer, aber nicht philosophischer Hinsicht entwickelt. Wir brauchen Glauben. Ich bin eine Art Christ ohne Kirche, rede aber nie darüber. Ich hasse klerikale Hierarchien.

Sie haben als junger Mann eine Weile Karriere als Fußballer gemacht. Spielen Sie noch?

Klar, mit meinen jüngsten Söhnen. Sie sind vier und fünf, und ich bringe ihnen Fußball bei. Sie sollen lieber Fußballer werden als Politiker. Ich bleibe nun mal ein unheilbar dummer Idealist. Interview und Übersetzung aus

dem Russischen: Anke Westphal

Siehe die Besprechung auf Seite 15.