Mütterchen Rußland hat viele Kinder

Immer mehr RussInnen verlassen die Staaten der GUS und flüchten nach Rußland. Nationalisten aller Schattierungen machen sich zu Sprechern ihrer Interessen, um das Großrussische Reich vergangener Zeiten wiederherzustellen. Tatsächliche Hilfe für die Rückkehrer jedoch fehlt – die schwerfällige Bürokratie ist überfordert, und das Geld ist knapp.  ■ Aus Moskau Ulrich Heyden

Die Datschensiedlung Kraskowo liegt in einem schönen Kiefernwäldchen gleich neben den Bahngleisen. Hier, im Osten Moskaus, erholen sich vor allem russische Militärs höherer Dienstränge. Mitten in der Siedlung stehen einige helle, zweistöckige Gebäude. Früher gehörten sie zu einem Kinderferienheim, heute wohnen hier 80 Flüchtlinge aus Baku, vor allem russische, aber auch russisch-armenische und russisch-aserbaidschanische Familien. Sie hatten ihre Heimatstadt Baku 1990 wegen der Pogrome gegen Armenier und Angehörige anderer Nationalitäten verlassen.

Diese Familien sind zwar als Flüchtlinge anerkannt, im Moskauer Gebiet registrieren lassen dürfen sie sich jedoch nicht, weil ihnen die örtlichen Behörden die Staatsbürgerschaft verwehren – die eigentlich allen BürgerInnen der Ex-Sowjetunion zusteht. So kommt es zu Irrungen und Wirrungen in der russischen Bürokratie: Im Flüchtlingsheim Kraskowo brachte eine Russin aus Baku vor zwei Jahren ein Kind zur Welt, das die russische Staatsbürgerschaft erhielt. Den russischen Eltern hat man dieses Recht bis heute verwehrt. Sie sind immer noch Staatsbürger Aserbaidschans, obwohl sie nicht dorthin zurückkehren können. In ihren Wohnungen in Baku leben längst Aseris, die ihrerseits aus Armenien geflohen sind. Nach Zahlen des Innenministeriums lebten unter den 150 Millionen EinwohnerInnen der Russischen Föderation im Januar 1994 609.000 Flüchtlinge. Die Migrationsverwaltung dagegen schätzt die Zahl der Flüchtlinge und Umsiedler auf zweieinhalb Millionen. 70 Prozent von ihnen sind Russen, und ihre Zahl wird mit Sicherheit noch zunehmen. Wenn sich die Lebensbedingungen in den Nachbarrepubliken weiter verschlechtern, könnten es in ein bis zwei Jahren sechs Millionen sein. Bis zum Jahr 2000 werden nach den Berechnungen einer russischen Regierungskommission elf Millionen RussInnen umsiedeln. Dabei handelt es sich nicht nur um Flüchtlinge aus den Nachbarrepubliken, sondern auch um Migranten aus den nördlichen Gebieten Rußlands, wo sich die Lebensbedingungen nach der Kürzung der staatlichen Subventionen dramatisch verschlechtert haben. Eine dritte Gruppe der Umsiedler sind die Familien der Militärangehörigen, die aus dem Ausland nach Rußland zurückkehren.

Alle wollen in die großen Städte

Der Großteil der Flüchtlinge läßt sich in den südlichen Grenzgebieten des Landes und in Zentralrußland nieder. Die Flüchtlinge, die oftmals hochqualifiziert sind und aus größeren Städten kommen, zieht es in die Ballungsgebiete, wo sie am ehesten eine Chance sehen, eine Arbeit zu finden, die ihrer Ausbildung entspricht. Nach dem Plan der Regierungskommission sollen in Rußland diejenigen Regionen steuerlich und wirtschaftlich gefördert werden, die Häuser für die Migranten bauen. Ob Moskau dafür aber die nötigen Mittel auftreibt, ist angesichts des allgemeinen Geldmangels zweifelhaft.

Ein Drittel der Bevölkerung Georgiens und ein Viertel der Menschen, die in Armenien lebten, sind in den letzten Jahren nach Rußland umgesiedelt. Ein großer Teil der Flüchtlinge ist nicht registriert. Sie wohnen meist bei Freunden oder Verwandten. „Wir haben nur administrative, aber keine juristischen Grenzen zwischen den ehemaligen Republiken. Deshalb können wir diese Umsiedlungen nicht hundertprozentig nachverfolgen“, sagt Sergej Solntsew, Pressesprecher der russischen Migrationsverwaltung. Soweit zwischen den GUS-Republiken überhaupt bewachte Grenzen existieren, kann man sie ohne Visum überschreiten.

Der russische Traum vom Imperium

Theoretisch könnte die Zahl der russischen Flüchtlinge bis auf 25 Millionen steigen. Denn so viele RussInnen leben heute außerhalb der Russischen Föderation in den ehemaligen Republiken der Sowjetunion. In Rußland selbst werden sie immer mehr zum politischen Thema: Nationalisten aller Schattierungen machen sich zum Sprecher ihrer Interessen und werden nicht müde, das Schicksal der Russen in den Nachbarrepubliken zu beklagen. Diese Klagen dienen vor allem dem Ziel, den Wunsch nach der Wiederherstellung des alten Imperiums wachzuhalten. Russische Demokraten träumen von einer Wirtschaftsunion mit der Russischen Zentralbank an der Spitze; der heimgekehrte Schriftsteller Alexander Solschenizyn wünscht sich ein Rußland, das die slawischen Republiken und Regionen vereinigt; die russische KP will eine erneuerte Sowjetunion. Michael Arutionow ist stellvertretender Vorsitzender der Menschenrechtskommission des russischen Präsidenten. Er will nichts davon wissen, daß Moskau seine Spezialisten in erster Linie in die Republiken der Ex-UdSSR geschickt hat, um die russischen Interessen zu sichern. Die Russen sind für ihn Opfer des sozialistischen Systems. Unter dem Nomenklaturasystem habe Rußland genauso wie alle anderen Republiken gelitten, sagt er. „Wenn nun Russen oder russischsprechenden Menschen vorgeworfen wird, daß sie Vertreter des russischen Imperiums seien, ist das ungerecht. Alle hatten ihre Gründe, in eine andere Republik zu ziehen. Die einen gingen freiwillig, die anderen wurden geschickt, viele kamen dort zur Welt, gründeten eine Familie.“ Die Diskriminierung der RussInnen im sogenannten „Nahen Ausland“ geschieht auf ganz unterschiedliche Weise, sagt Arutionow: Während viele RussInnen Estland und Lettland verlassen, weil ihnen diese Staaten die Staatsbürgerschaft verweigern, fliehen die RussInnen aus Mittelasien vor Bürgerkriegen und sozialer Benachteiligung. Als Beispiel nennt er Tadschikistan und den bereits mehrere Jahre dauernden Bürgerkrieg, in den auch russische Soldaten verwickelt sind. Die Zahlen der Flüchtlinge unterscheiden sich laut Arutionow jedoch stark von Region zu Region: So haben weniger als ein Prozent der RussInnen die beiden baltischen Länder Estland und Lettland seit 1989 verlassen, aber drei Viertel der tadschikischen RussInnen sind in den letzten vier Jahren ausgewandert.

Der Berater Jelzins vertritt die Ansicht, daß die Präsidenten der mittelasiatischen Republiken an einer Integration der russischen Bevölkerung wohl interessiert seien. In der Praxis sei das Verhalten der Regierungen jedoch meist anders. Daher solle die russische Regierung in Mittelasien entschiedener auftreten. „Wenn man mit Lettland und Estland aus der Position des Stärkeren sprechen kann, so sollte man dies auch mit den mittelasiatischen Politikern tun. Statt dessen flirtet man mit ihnen und betont die guten Beziehungen.“

Derartige Stellungnahmen aus dem Regierungslager nehmen derzeit zu. Emil Pain, Leiter einer Expertengruppe der russischen Regierung, sagte in einem Interview mit der Zeitung Iswestija, die Vertreter der russischen Diaspora müßten von der russischen Regierung „auf Grundlage des internationalen Rechts“ geschützt werden. Offensichtlich spielte Pain darauf an, daß in Nordkasachstan Vertreter russischer Organisationen verhaftet worden waren.

In Kasachstan leben heute 6,2 Millionen RussInnen. 1990 waren 40 Prozent der Bevölkerung Kasachen, sechs Prozent Deutsche, fünf Prozent Ukrainer und 38 Prozent Russen. Für Alexander Solschenizyn sind 60 Prozent der Einwohner Kasachstans, also alle Nichtkasachen, naschi – „Unsere“.

Angst um die Zukunft ihrer Kinder

Die RussInnen kamen nach Kasachstan, um – wie es offiziell hieß – das wirtschaftliche und kulturelle Niveau des Landes zu heben. Sie stellten einen großen Teil der wissenschaftlich-technischen Intelligenz des Landes. Nicht nur von russischer Seite wird berichtet, daß die russischen Führungskräfte heute zunehmend von KasachInnen ersetzt werden. Aber auch Ukrainer, Deutsche und andere nationale Minderheiten würden in Kasachstan aus ihren beruflichen Positionen verdrängt.

Viele haben Angst, daß ihre Kinder diskriminiert werden, daß sie keine Arbeit und keine Berufsausbildung bekommen: „Wenn sie ihren Beruf in kasachischer Sprache erlernen müssen, werden sie – wenn sie nach Rußland zurückkehren und in Rußland studieren wollen – nicht mehr imstande sein, eine Prüfung in Russisch abzulegen. Für viele Menschen ist dies ein Grund, das Land zu verlassen“, sagt Emil Pain.1989 sprach gerade ein Prozent der RussInnen in Kasachstan die Landessprache.

Wie sehr sich in der russischen Politik die Gewichte zugunsten nationalistischer Positionen verschoben haben, wird deutlich an den veränderten Forderungen des „Kongresses russischer Gemeinschaften“. Die Organisation, die als „Sprecherin“ der Russen in den Nachbarrepubliken auftritt, hatte für ihre Klientel das Recht auf doppelte Staatsbürgerschaft gefordert. Jetzt erklärte der Vorsitzende des Kongresses, Dmitrij Rogosin, in einem Interview mit der Zeitung Moskovskije Nowosti: „Die doppelte Staatsbürgerschaft wird nicht zur Wiedergeburt des russischen Imperiums führen. Das Vorhandensein zweier Staatsbürgerschaften ist ein Zeichen für die Teilung der Nation.“ Den Kampf für die doppelte Staatsbürgerschaft will man in Zukunft dem russischen Außenministerium überlassen. Der Kongreß – so sein Vorsitzender – will „eine einheitliche Staatsbürgerschaft für die ganze Gemeinschaft“, also die GUS-Staaten. Rogosin will Rußland mindestens um Weißrußland, die Krim, die Ukraine und Kasachstan erweitert wissen. Daß es seiner Meinung nach bisher keinen juristischen Akt gab, „mit dem den Menschen die Staatsbürgerschaft der UdSSR entzogen wurde“, empfindet er als Bestätigung der Forderungen. „Unsere Linie ist, die Ausreise der ethnischen Russen aus Kasachstan, dem Baltikum und der Ukraine zu verhindern. Wir müssen danach streben, daß ihre Rechte dort garantiert werden, wo sie leben.“

In den letzten Monaten wurden von russischen Regierungskommissionen mehrere Vorschläge erarbeitet, mit denen die Flüchtlingsprobleme gelöst werden sollen. Doch der Präsident Kasachstans, Nursultan Nasarbajew, sträubt sich gegen die doppelte Staatsbürgerschaft. Er fürchtet, daß dadurch der Einfluß der russischen Regierung wachsen könnte und sie jeden Eingriff in die inneren Angelegenheiten seines Landes mit dem Schutz der russischen BürgerInnen begründen würde. Statt dessen spricht sich Nasarbajew für eine „ruhende russische Staatsbürgerschaft“ aus: Jeder Bürger Kasachstans, der sich in Rußland niederlassen will, kann innerhalb von sechs Monaten die russische Staatsbürgerschaft erwerben.

Moskowiter sehen zu viele „fremde Gesichter“

Ganz im Gegensatz zu den großen Worten der Politiker, die „die Russen im nahen Ausland nicht im Stich lassen wollen“ sind die Behörden in den Metropolen bestrebt, ihre Gebiete gegen Flüchtlinge abzuschotten. Doch die Russen aus Baku wollen sich nicht aus Moskau weglocken lassen. Wenn sie irgendwohin aufs Land verfrachtet würden, drohe ihnen weiterer beruflicher und sozialer Abstieg, fürchten sie. Aber nicht nur die Behörden, auch die „normalen“ MoskauerInnen sind auf die Flüchtlinge nicht gut zu sprechen. Viele derjenigen, die selbst erst nach dem Krieg nach Moskau gezogen sind, beschweren sich jetzt, in der Stadt gebe es zu viele „fremde Gesichter“.

Tatsächlich leben unter den 19 Millionen Menschen des Großraumes Moskau heute fast 200.000 registrierte Flüchtlinge. Und doch gibt es in der russischen Metropole – zumindest den offiziellen Zahlen nach – weit weniger Migranten als in anderen Teilen Rußlands. Die höchste Zahl von Migranten hat mit 50 Prozent Bevölkerunganteil die Kaukasusrepublik Inguschetien.

Die RussInnen aus Baku sind mit ihren Nerven am Ende. Ende des Jahres sollen sie ihr Heim in Kraskowo verlassen. Der Staat will das ehemalige Kinderferienheim nicht mehr finanzieren, es soll privatisiert werden. Die bisher vorgeschlagenen Alternativen kommen für die Flüchtlinge in Kraskowo nicht in Frage. Eine junge Zahnärztin erzählt, man habe ihnen ein Dorf in der Nähe von Kaluga als Wohnsitz angeboten. Sie hätten sofort gefragt, ob es dort Arbeit für zwei Zahnärzte gebe. „In der Poliklinik gibt es aber nicht einmal ein Zahnarztzimmer. Deshalb wollen wir da nicht hinfahren“, sagt sie. „Wenn wir aber mehr als zweimal ein Angebot ablehnen, werden wir einfach rausgeschmissen.“