Unterlassene Hilfeleistung

■ Nach dem Mordanschlag auf Martin Agyare in der Berliner S-Bahn ermittelt eine Sonderkommission der Staatsanwaltschaft Brandenburg / Als Täter werden Skinheads vermutet / Warum erstatteten die Zeugen nicht ...

Unterlassene Hilfeleistung

Als Martin Agyare am Freitag, den 16. September, um 23 Uhr die S-Bahn in Berlin-Pankow bestieg, sollten dies die letzte Schritte sein, die er mit seinen eigenen Beinen machte. Als der 25jährige Ghanaer Tage später im Klinikum Buch erwachte, fehlte ihm der linke Unterschenkel und zwei Zehen am rechten Bein. Sein Schädel war gebrochen und an Hüfte und Bauch bluteten Stichwunden. Die Ärzte dachten zunächst an einen Selbstmordversuch, als der lebensgefährlich verletzte Mann am Sonnabend vormittag per Hubschrauber eingeliefert wurde. Bewußtlos war er auf den Bahngleisen 70 Meter vor dem Bahnhof Hohen Neuendorf gefunden worden. Eine S-Bahn hatte ihm den Unterschenkel abgetrennt. Warum der leblose Körper – heruntergekühlt auf 27 Grad – erst am hellen Tag gegen 9.25 Uhr von einem Bahnangestellten gefunden wurde, weiß bis heute keiner. „Wir ermitteln noch“, sagt der Neuruppiner Oberstaatsanwalt Erardo Rautenberg. Tatsächlich haben die Ermittlungen erst begonnen, als der Ghanaer aus seiner tagelangen Bewußtlosigkeit erwachte — und berichtete, was ihm zugestoßen war auf dem Weg vom Asylbewerberheim in Berlin zu seiner Bekannten nach Oranienburg. „Ich bin in den letzten Waggon eingestiegen. Wann die Skinheads kamen, konnte ich nicht sehen. Aber eine Frau hat mich gewarnt. Sechs Skinheads waren es, und sie schoßen mit Blasröhrchen Nadeln auf die 15 Fahrgäste ab.“ Dann kamen zwei zu ihm, zückten Springmesser und stachen auf ihn ein. Einer von beiden öffnete schließlich die Tür, und dann warfen sie ihn aus der fahrenden S-Bahn.

Die Staatsanwaltschaft Neuruppin hat Anklage erhoben wegen Mordversuchs. Und sucht seither fieberhaft nach Zeugen für die Tat. Auch gestern blieb der Schwerverletzte Ghanaer dabei: Es seien 15 Leute mit ihm im Waggon gesessen. 15 Personen, und kein einziger davon hat sich bei der Polizei gemeldet, oder das Personal der Berliner Verkehrs-Betriebe alarmiert. Rautenberg: „Alle regen sich immer über die Ermittlungsbehörden auf. Aber selbst hat keiner Courage.“ Daß ein Alarmanruf verschludert worden sei, hält er für ausgeschlossen. „Die Meldung, daß einer aus der S-Bahn geworfen wurde, vergißt man nicht.“

Gestern wurde der Schwerverletzte im Krankenbett ins Foyer geschoben, zur Pressekonferenz. „Ich mache den anderen Fahrgästen keinen Vorwurf“, sagt er. „Die mußten sich selber in Sicherheit bringen, denn die wurden doch mit Nadeln beschossen.“ Nein, er habe nicht um Hilfe geschrien. „Das war offensichtlich, daß ich Hilfe brauchte.“ Was Agyare noch nicht weiß, ist, daß keiner der Zeugen den Vorfall meldete.

Eine Stichverletzung hat der junge Mann an der Schläfe, am Hinterkopf ist ein Flecken rasiert und die Haut genäht. Den Körper hält er unter der Decke, den Kopf kann er nicht heben, und die Augen sind blutunterlaufen. Doch er trägt sein Schicksal mit erstaunlicher Fassung. „Nein“, sagt er, er sei nicht enttäuscht von Deutschland. So etwas könne einem in jedem Land passieren, auch in seiner Heimat. „Es war das erste Mal, daß ich Probleme hatte mit Rassismus in Deutschland, das erste Zusammentreffen mit Skinheads.“

Natürlich, daß keiner helfen konnte, sei schon schade. „Aber das ist eine Frage der Mentalität. Ich zum Beispiel würde sofort jedem helfen, ich habe keine Angst. Die Deutschen sind da anders.“ Kein Zorn, keine Enttäuschung schwingt da mit in der Stimme. Ob es denn keine Möglichkeit gegeben hätte, sich gemeinsam zur Wehr zu setzten? „Sicherlich, zusammen hätten wir etwas machen können gegen die sechs Skinheads. Aber die anderen versuchten, sich selbst zu retten.“

Wo ein 25jähriger frisch Amputierter soviel Verständnis für andere herbringt, bleibt verborgen. Von Tag zu Tag scheint sich der Mann mehr abzufinden, ohne Haß und Vergeltungsgedanken. Am Donnerstag abend noch wollte er sofort nach Ghana zurück, sobald er gesund und die Prothese angepaßt sei. Freitag mittag hatte sich der abgelehnte Asylbewerber — umgeben von sieben Kamerateams und umschwärmt von den Versprechungen der Bild, sie werde eine Sammelaktion für ihn starten – umentschieden. „Wenn ich entscheiden dürfte und nicht die Ausländerbehörde, würde ich gerne in Deutschland bleiben. Ich hatte zwei gute Jahre hier. Meine Meinung zu Deutschland hat sich nicht verändert. In den USA passiert so etwas viel häufiger.“

Bislang gibt es keine Zeugen, die Agyares Aussagen bestätigen. Theoretisch sei auch ein anderes Szenario möglich. „Aber wer erfindet nach einer Amputation und mit einem Schädelbruch eine so genaue Geschichte?“ Unmöglich sei das, urteilt Rautenberg. „Und falls doch: Bei solch einer grausigen Geschichte ist es besser, mit voller Kraft Löcher in die Luft zu hauen, als das Risiko einzugehen, die Täter entkommen zu lassen.“

Rautenberg hofft auf die sechs Hinweise, die am Freitag nachmittag eingegangen sind. Zeugen der Tat will er, wenn sie sich melden, tüchtig den Marsch blasen. Doch wegen unterlassener Hilfeleistung müssen sie sich nicht verantworten: „Wir wären schon froh, wenn uns jemand weiterhelfen könnte.“ Michaela Schießl