Wenn weißer Rauch aufsteigt

Seit dem Diktator Ceaușescu setzt Rumänien auf die Atomenergie. Eine ganze Stadt muß sich jetzt auf die Katastrophe einstellen  ■ Aus Cernavoda Keno Verseck

Donnerstag, 22. September 1994. Um 11.24 Uhr erschüttert eine Explosion die Stadt. Der Knall schreckt die Menschen in dem trägen Städtchen auf. Sie recken die Köpfe hoch, stieren in den Himmel, wo der weißgraue Rauchpilz langsam im Blau zerfließt. Dann geht das Leben weiter. Die Leute schlendern weiter. Händler auf dem Markt bedienen wieder ihre Kunden, ein paar Roma-Mädchen tanzen an der Bushaltestelle zu türkischer Musik. Nur Cristina, das Eismädchen mit den dunklen Haaren und den hellgrünen Augen, flüstert gedehnt: „Heilige Mutter, ist mir Angst!“ Aber gleich darauf lacht sie über sich. „Ich glaub, ich sterb noch.“

Um 11.32 Uhr ist noch eine Explosion zu hören, weiter unten am Kanal. Um 11.33 Uhr wieder eine Explosion, diesmal ganz dicht neben dem Markt. Ein kleiner Rauchpilz steigt auf. An der Straßenkreuzung hält ein Auto, der Fahrer wendet sich fragend an den Kaugummi kauenden Polizisten. „Nein“, sagt der, „sie dürfen die Stadt nicht mehr verlassen. Alle Ausfahrten sind gesperrt.“

Um 11.34 heulen die Sirenen. Chemischer Alarm, zwei Minuten lang. Ein Kriegsschiff der Marine fährt vom Fluß in den Kanal ein. Aus Südosten kommen Hubschrauber angeflogen. Rote Leuchtkugeln platzen am Himmel auf und schweben langsam herab. Aus den Funkgeräten des Zivilschutzes dröhnt die sehr gewissenhafte Stimme von Unteroberst Filipescu: „Unfall in der Nuklearzentrale! Militär und Sicherheitskräfte intervenieren in der Zone. Die Evakuierung beginnt.“

Unteroberst Filipescu steht jetzt am Hang eines Hügels, auf der anderen Seite des Kanals. Von dort aus ist sowohl die Stadt als auch das Atomkraftwerk bestens zu überblicken. Schautafeln zu den Evakuierungsplänen sind aufgebaut.

Auf einer Tribüne sitzen hohe Offiziere, Beamte aus Ministerien und anderer rumänischer Behörden, Nato-Angehörige. Sie werden sich den Verlauf der Katastrophe sowie ihre Bewältigung anschauen. Wenn alles vorbei ist, wird unten am Marktplatz wieder Filipescus Stimme aus den Funkgeräten dröhnen: „Nach dem erfolgten Atomunfall sind alle Maßnahmen ordnungsgemäß getroffen worden.“

Und Cristina, das Eismädchen, wird ihr besorgtes Gesicht mit den Händen bedecken und murmeln: „Oh, Mutter!“ Es war ja nur eine Übung, ein Spiel.

Rumänische Zeitungen berichteten schon Tage vorher alle Details der Katastrophensimulation. „Am Donnerstag, den 22. September, wird in Cernavoda, dem Standort der Nuklearzentrale, ein Unfall simuliert, Gas, Wasser und Strom in der Stadt abgestellt und die Bevölkerung evakuiert werden.“ Dazu der Maßnahmenplan, inklusive Zeitangaben, und die Erklärung, warum das notwendig sei.

Kritische Anmerkungen über die Übung wurden nicht gemacht. So wie auch sonst rumänische Medien, Politiker, ja selbst die oppositionelle „Ökologische Partei“ keine Kritik an dem Atomkraftwerk im Land üben.

Statt dessen stecken sie voller Erwartung, ja Stolz darüber, daß endlich auch in Rumänien ein Atomkraftwerk arbeiten wird. Im Januar nächsten Jahres soll in der Cernavoda 160 Kilometer östlich von der Hauptstadt Bukarest an der Donau gelegen, der erste von fünf Atomreaktoren in Betrieb gehen und nach dreimonatigen Probelauf Strom ins Netz liefern. Der 700-Megawatt-Reaktor decke zehn Prozent des Strombedarfes im Land, heißt es beim staatlichen Elektroenergiemonopolisten Renel. Den zweiten Block will die Firma im Jahre 1998 in Betrieb nehmen, die anderen drei irgendwann nach der Jahrtausendwende.

Vierzehn Jahre Bauzeit sind vergangen. Einst hatte Ceaușescu entschieden, daß Rumänien ein Atomkraftwerk brauche. Wie alles, was der Diktator plante, sollte es groß sein und Rumänien unabhängig vom Rest der Welt machen. Und so blieb es nicht beim Atomkraftwerk. Im südrumänischen Pitești ließ er ein Kernforschungszentrum mit Versuchsreaktor und eine Uranverarbeitungsfabrik errichten, in Turnu Severin an der serbischen Grenze eine Fabrik für schweres Wasser.

Das Atomkraftwerk selbst sollte mit heimischem Uran arbeiten. Nur für den Bau der Reaktoren suchte der Diktator kanadische Partner, die den Reaktortyp Candu-6 lieferten.

Nach kurzer Unterbrechung im Jahre 1990 setzte der rumänische Staat in Zusammenarbeit mit Kanada die Pläne des gestürzten Diktators fort. Schlechte Technologie und ungenügende Sicherheitsvorkehrungen waren und sind kein Hindernis: In der Schwerwasserfabrik Turnu Severin ereigneten sich seit 1989 vier schwere Unfälle, beim letzten davon starben in diesem Frühjahr vier Menschen. Und im Kernforschungszentrum Pitești brach im Sommer 1993 ein Feuer aus.

Angestellte bei Renel sprechen außerdem von Finanzierungsproblemen der vier noch nicht fertigen Reaktoren in Cernavoda und werben um ausländische Investoren. Was der Bau des Atomkraftwerkes bisher gekostet hat, können oder wollen sie aber nicht sagen. Es seien einige Milliarden Dollar, heißt es.

Daß sich Rumänien, nach Albanien das zweitärmste Land Europas, damit übernimmt, ist schon auf dem Weg nach Cernavoda leicht zu erkennen. Von Bukarest aus fährt der Zug in die Stadt zwei Stunden, den längsten Teil der Strecke durch den Baragan. Einst erstreckte sich hier eine riesige unfruchtbare Steppe, an deren Rand die ärmsten Bauern des Landes lebten.

Ceaușescu ließ die Region radikal agroindustrialisieren. So ist heute von der Steppe nichts mehr zu sehen. Wohl aber von der Armut, die seither hier herrscht. Vertrocknete Maisfelder reichen bis an den Horizont, die meisten Genossenschaften sind stillgelegt. In fast jedem Dorf steht eine Zementfabrik oder ein Chemiekombinat, und der Baragan verströmt allerlei Gerüche von Ammoniak bis Schwefelwasserstoff.

Zerlumpte Kinder und Alte steigen an jeder Station zu, betteln die Reisenden um ein paar Lei an. Das Hauptverkehrsmittel auf Straßen und in Dörfern sind Holzwägelchen mit dürren Pferden davor.

Gegenüber der großen Ialomiţa-Insel in der Donau, dort wo die bergige Dobrudscha beginnt, erstreckt sich am Hang des Ufers die Stadt Cernavoda. Hier zweigt auch der 60 Kilometer lange Kanal ab, der die Donau mit dem Schwarzen Meer verbindet — errichtet unter Ceaușescu von Tausenden Häftlingen und Soldaten.

Der Kanal trennt den Bahnhof von der Stadt und dem Atomkraftwerk, das sich am Südostende der Stadt an sie anschließt. Die einzige zu Fuß erreichbare Brücke steht erst am Ende der riesigen Baustelle, vier Kilometer vom Stadtzentrum entfernt.

Zahlreiche Schilder weisen schon am Bahnhof darauf hin, daß das Fotografieren verboten ist. Doch am Tag der simulierten Katastrophe ist auch das erlaubt. Die Presse dürfe sich ganz frei fühlen, sagt Unteroberst Filipescu auf der Tribüne und erläutert dann den Katastrophenablauf. Von 22.000 Einwohnern werden bei der Übung 4.000 in die umliegenden Dörfer und Städte evakuiert.

Die „verseuchte, zu evakuierende Zone“ mißt fünf Kilometern im Durchmesser. Filipescu spricht von „Populationsfluß, humaner Agglomeration und Überlebenschancen“.

Unten in der Stadt erwähnt der Chef des Zivilschutzes, Dumitru Marco, „ein, zwei Extremisten“, die „meinen, wir brauchen keine nukleare Zentrale“. Die „Extremisten“ will er aber nicht kennen, er habe „nur so“ von ihnen gehört.

Er riecht nach Fusel, spricht schwerfällig. „Die nukleare Zentrale ist von nationalem Interesse. Nein, da kann nichts austreten. Die größte Sicherheit wäre natürlich eine Brücke über den Kanal, hin zum Bahnhof. Denn der Mensch begreift in so einem Fall ja, daß er schnell weggehen muß.“

Einer der drei Direktoren des Atomkraftwerkes, Constantin Georgescu, gibt dagegen die Existenz von „Defekten und Mängeln“ zu. Um welche es sich handelt, sagt er nicht. Angesprochen auf Berichte der „Internationalen Atomenergiebehörde“ (IEAO) in Wien, die in den letzten Jahren schlechtes technisches Personal, schlechtes Management und mangelnde Qualität des Baumaterials kritisierte, sagt Georgescu, die Fehler seien nun behoben, auch wenn es, „wie gesagt noch Defekte gibt“.

Nicht nur während des Gespräches fliegen in vielleicht tausend Metern Höhe ständig Flugzeuge über das Atomkraftwerk hinweg — im Landeanflug auf den 35 Kilometer entfernten Flughafen beim Dorf Mihail Kogalniceanu. Gegen Abstürze sei das Kraftwerk gesichert, sagt Georgescu. Auch gegen Erdbeben bis Stärke acht. Denn die Dobrudscha ist eine potentielle Erdbebenzone.

Die meisten Menschen in der Stadt scheinen überzeugt, daß sich niemals ein Unfall im Atomkraftwerk ereignen wird. So wie der vielleicht fünfzigjährige Mann, der vor einem der Neubaublocks mit seinem Sohn spielt. Er ist froh, daß die Arbeitsplätze hier sicher sind, daß ab Januar endlich geheizt wird und Warmwasser fließt. Denn beides gab es bisher nicht, auch nicht winters. Die Frau neben ihm zuckt über die Katastrophenübung die Schultern: „Jetzt hab ich was, worüber ich mit den Nachbarn reden kann.“

Nur Dan Mihai, der auf dem Markt mit seiner Frau und ihrem ein paar Monate alten Sohn einkauft, fragt sich, ob die Behörden im Ernstfall tatsächlich 22.000 Einwohner in knapp 15 Minuten evakuieren können. Er findet es ohnehin lächerlich, denn „wenn etwas passiert, sterben wir doch alle in sechs Sekunden“.

Ob er wohl einer der beiden Extremisten ist, von denen der Zivilschutzchef sprach? Von einer ökologischen Gruppe oder sonstigen Protesten in der Stadt hat Dan Mihai jedenfalls nicht gehört.

Es ist 11.37 Uhr. Vielleicht zweihundert Kinder stehen in einer langen Zweierreihe vom Kanalufer bis hinter den Markt, lachen und tuscheln aufgeregt. Dann gehen sie auf die Fähre. Ein Zivilschützer schreit: „Jetzt nicht mehr reden!“

Polizisten drängen einige Schaulustige weg. Um 11.39 Uhr legt die Fähre ab. Kein Kind winkt. Aus den Funkgeräten dröhnt wieder Filipescus Stimme: „Nach dem Atomunfall fahren die Transportmittel nach Möglichkeit in die Richtung, aus der der Wind kommt.“

Nach einer Stunde kommen die ersten Schüler und Schülerinnen von den verschiedenen Sammelpunkten zurück, zu denen sie probehalber fliehen mußten.

Manchen der sechzehnjährigen Mädchen hat es Spaß gemacht. „Diesmal war es ja nur ein Scherz“, sagt die eine, „wir haben uns amüsiert, Boot fahren und so weiter. Aber später werden wir nicht mehr lachen.“ Wann wird das sein?

„Das ist es ja“, gibt ihre Freundin zu bedenken. „Leider nehmen die Leute solche Übungen nicht ernst.“

Wäre es nicht besser, gar kein Atomkraft zu bauen? Sie schütteln den Kopf. „Unsere Zentrale ist viel sicherer als Tschernobyl“, sagt die eine. „Bei den Russen hat ja nicht einmal der Alarm funktioniert ... soviel ich weiß.“