Die Pest: der Apokalyptische Reiter

■ Massensterben, Einsamkeit, Verzweiflung – bis ins 20. Jh. gehörte die Pest zu den großen Alpträumen der Menschheit

Seuchenhygiene und Antibiotika haben die Pest zwar gezähmt und regionalisiert, aber bricht sie dennoch aus, wird die Urangst vor dieser klassischen Plage der Menschheit wieder lebendig. Obwohl der Infektionsweg Ratte – Floh – Mensch heute bekannt ist (früher machte man Sternenkonstellationen und Dämpfe aus der Erde dafür verantwortlich), wissen die Armen sich wie früher nicht anders zu helfen als durch Flucht. Und genau wie in den vorigen Jahrhunderten tragen sie damit die Pest weiter.

In Bombay bewachten während der großen Pest 1896 Soldaten der Kolonialarmee die Zufahrtswege und schossen in die Menge der heranströmenden Landbevölkerung. Um Hongkong und Macao patrouillierten „Pestschiffe“ und Kanton ließ niemanden hinaus und hinein. Wenn die Pest in Indien jetzt nicht sofort unter Kontrolle gebracht wird, befürchtet die Weltgesundheitsorganisation, dann sind Aufstände in den Armutsvierteln absehbar. Schon als Hunderttausende nach dem Erdbeben im Bundesstaat Maharashtra vergangenen September in die Slums von Bombay flüchteten, gab es blutige Auseinandersetzungen um Fluchtplätze.

Immer waren große Katastrophen und auch die Pest begleitet von Gewalt, Kriminalität und Sittenverfall auf der einen Seite und tödlicher Resignation und Hedonismus auf der anderen. Hippokrates beschrieb diese Phänomene in der Antike, Boccaccio, Petrarca und Chaucer den Schwarzen Tod, der 1347 bis 1351 wütete, Daniel Defoe die Pest von London 1665-66 und Alessandro Manzoni die in Mailand Mitte des 17. Jahrhunderts. Auch Albert Camus' Beschreibung der Pest in Algerien zeigt, daß alleine die Angst vor der Ansteckung das Individium physisch und psychisch zerstört.

Die Pest löste Familienbande, provozierte und entschied Kriege, stürzte Dynastien, verursachte Völkerwanderungen, führte zu Hungersnot, rief soziale Spannungen hervor, und beeinflußte das religöse Verhalten. Teuerung, Massensterben, Einsamkeit, Verzweiflung – die Pest gehörte bis ins 20. Jahrhundert zu den großen Alpträumen der Menschheit. Bis dahin ritt Albrecht Dürers „Apokalyptischer Reiter“ über die Kontinente und räumte auf. Zuerst bei den Armen, dann bei der Arbeitsbevölkerung.

Die Seuche galt als Rache Gottes

Die wirtschaftlich und sozial folgenreichste Pestepidemie – die manche Historiker als das Ende des Mittelalters und Beginn der Neuzeit beschreiben – war der Schwarze Tod. Über Asien und die Krim kam er 1347 nach Europa und schüttelte bis 1351 ganz Europa. „Das ist das Ende der Welt“, heißt es in einer italienischen Chronik. In diesen Jahren starb ein Drittel der Bevölkerung, mindestens 23 Millionen Menschen. In ganzen Landstrichen überlebten nicht einmal Hunde oder Katzen. In den ländlichen Gebieten von Norditalien fielen die Bauern auf den Feldern tot um, in den französischen Städten starben die Ärzte am Bett ihrer Patienten und die englischen Mönche siechten dahin, bevor sie den Gläubigen die Letzte Ölung geben konnten. Wer aber starb, ohne gesegnet und von den Sünden losgesprochen zu sein, verfiel laut mittelalterlicher Glaubenslehre der ewigen Verdammnis. Das Gefühl der Unwissenheit über die Ursache der Seuche steigerte noch den apokalyptischen Schrecken. Flagellanten und Geißler zogen durch die Länder, predigten das Ende der Menschheit und peinigten sich mit Stachelruten blutig. Die Seuche galt ihnen und den christlichen Volksmassen als Rache Gottes. Schuldige wurden gesucht und gefunden.

Die fürchterlichste Begleiterscheinung war die Beschuldigung, Verfolgung und Ermordung der Juden. Bis zum Holocaust, schreibt Klaus Bergdolt in seinem eben erschienen Buch über den Schwarzen Tod, blieben die Pogrome zwischen 1348 und 1350 „die größte singuläre Mordaktion gegen die jüdische Bevölkerung in Europa“. Als „Brunnenvergifter“ wurden die Juden denunziert. Der Tod in den Flammen hieß der „jüdische Tod“. In Basel, Solothurn, Zürich, Straßburg, Konstanz, den ganzen Rhein hinauf und von Lübeck bis nach Würzburg wurden fast alle Mitglieder der Jüdischen Gemeinden in ihren Häusern verbrannt. Bei der Einäscherung des großen jüdischen Quartiers in Frankfurt ging die halbe Stadt in Flammen auf. In Worms und Speyer verbrannten sich die Juden selbst in ihren Häusern, um nicht zwangsgetauft zu werden. Bis 1350 gab es außer in Prag und Wien keine große Jüdische Gemeinde mehr. Anita Kugler