■ Noch keine Tatzeugen des Mordversuchs an Martin Agyare
: Was aus dem Schweigen folgt

Grauenerregend, wie die Umstände des Mordversuchs an dem ghanaischen Asylbewerber Martin Agyare an sich schon sind: das bitterste, das am meisten deprimierende Faktum besteht im hartnäckigen Schweigen derer, die zu Zeugen des Verbrechens wurden. Vergeblich sicherte die Staatsanwaltschaft Neuruppin Aussagewilligen Straffreiheit wegen des Delikts der unterlassenen Hilfeleistung zu. Keiner der rund fünfzehn Fahrgäste, die zusahen, als Martin Agyare durch Messerstiche verletzt und anschließend aus dem S-Bahn-Zug geworfen wurde, die ausstiegen, nach Hause gingen und sich schlafen legten, ohne Polizei oder Notdienst zu verständigen, kein einziger hat sich bis heute bereit gefunden, aus der Anonymität herauszutreten.

Diese nachträgliche, sicherlich unverabredete, aber um so wirksamere Verschwörung des Schweigens lastet noch schwerer auf der demokratischen Öffentlichkeit, ist noch zerstörerischer für spontan-kollektive, aus der Situation geborene Widerstandsaktionen gegen den Rassismus als das Beifallsgegröle von Rostock-Lichtenhagen. Denn dieses Schweigen bezieht die Ehefrauen und Ehemänner, die Kinder und Freunde der Zeugen ein, mithin jenen Lebenskreis, innerhalb dessen normalerweise Orientierungshilfe bei prekären moralischen Entscheidungen geleistet wird.

Zivilcourage ist eine anstrengende Tugend, vor allem wenn die eigene Gesundheit auf dem Spiel steht. Aber hier ging es gar nicht um die Antwort auf die quälende Frage, ob wir, die wir Schlägereien verabscheuen und in der Kunst der Selbstverteidigung nicht unterrichtet sind, dennoch dem Nächsten beispringen, wenn der von einer bewaffneten Bande niedergemacht wird. Es ging nur um ein Quentchen menschlichen Mitgefühls, um das „ethische Minimum“, auf das jeder Autofahrer rechnen darf, der nach einem Unfall hilflos auf der Straße liegt.

Gewalt, schrieb Hannah Arendt einmal, ist stumm. Sie kann auch diejenigen zum Verstummen bringen, die ihre Zeugen werden. Hätte das Zufalls-Kollektiv der Fahrgäste in jener Mordnacht nach der Tat die Sprache wiedergefunden, es wäre undenkbar gewesen, daß als Diskussionsergebnis herausgekommen wäre: die Sache geht uns nichts an. Das klingt wie eine hohle Beschwörung der Grundsätze kommunikativer Ethik. Aber wie sollen wir uns die Verteidigung ziviler Standards in einer Gesellschaft vorstellen, wenn es außer den Subsystemen des Staates, der Politik, der Ökonomie und des privaten Lebens nicht jene Öffentlichkeit gäbe, in der die Bürger sich über die konkreten Formen ihres Zusammenlebens verständigen und der allein der abgenutzte Begriff der „civil society“ entspricht?

Kein noch so überzeugender Hinweis auf die Folgen des „Wegsehens“ in der deutschen Geschichte, keine noch so schwungvolle Verurteilung des Mordversuchs anläßlich der „Woche des ausländischen Mitbürgers“ wird einen der Zeugen dazu bringen, den verspäteten Gang auf die Polizeiwache anzutreten. Denn jetzt die eigene Schwäche, den eigenen Irrtum einzugestehen wäre wirklich ein Akt der Zivilcourage. Ihn zu bewirken sind nur die in der Lage, die mit den Zeugen zusammenleben. Dieselben, die bislang ihren Entschluß, zu schweigen, deckten. Creo quia absurdum. Christian Semler