Totschlag an der deutschen Grenze

■ Gestern wurde die Anklage im Mielke-Prozeß verlesen

Berlin (taz) – Im Prozeß gegen Erich Mielke wurde gestern die Anklage verlesen. Dem 86jährigen ehemaligen Chef der Staatssicherheit der DDR und Mitglied des Nationalen Verteidigungsrats (NVR) wird gemeinschaftlicher Totschlag in sechs Fällen durch Schüsse und Minen an der innerdeutschen Grenze vorgeworfen. Gegen den Protest der Anwälte wurden deren Anträge auf Einstellung des Verfahrens wegen Mielkes Gesundheitszustand und Aussetzung zwecks Beiziehung anderer Akten zurückgestellt.

Bei der Verlesung der Anklageschrift bezog sich die Staatsanwaltschaft auf verschiedene Sitzungen des Nationalen Verteidigungsrats, bei denen es um die sogenannte „Verbesserung“ der Grenzsicherung, die Verlegung von Splitterminen und den Ausbau von Schußlinien ging. In einzelnen Sitzungen wurde außerdem festgehalten, daß Grenzverletzer notfalls „vernichtet“ werden müßten und von der Schußwaffe „rücksichtsloser Gebrauch“ gemacht werden solle.

In den vorangegangenen drei Terminen vor der 27. Großen Strafkammer war es vor allem um eine mögliche Befangenheit des Vorsitzenden Hansgeorg Bräutigam gegangen. Der hatte einen Journalisten zu sich zitiert, weil er sich durch dessen Kommentar provoziert fühlte. Dort wurde das Gericht mit einem Theaterstück und die Verfahrensbeteiligten mit „Protagonisten“ verglichen (einer der gebräuchlichsten Vergleiche bei Prozeßberichten überhaupt). Der Ablehnungsantrag wurde am vergangenen Donnerstag zurückgewiesen. Der Vorsitzende habe sich „auch nicht andeutungsweise über den Angeklagten oder über den Prozeßverlauf geäußert“. Und: Wenn der Richter gegen eine solche Berichterstattung, die „dem beruflichen Ethos des Richters in krasser Form entgegen(stehe), seine Stimme zu erheben versuche, könne dies nicht beanstandet werden, weil er letztlich im objektiven Interesse aller Beteiligten handele.“ ja