■ Amerikanische Motte als Kastanienkiller
: Durchtrennte Saftbahnen

Wien (taz) – Ein unscheinbarer Kleinschmetterling mit dem Namen „Cameraria ohridella“ jagt österreichischen Forstexperten derzeit einen großen Schrecken ein. Das Insekt aus der Familie der Miniermotten hat sich zum Kastanienkiller Nummer eins entwickelt. In Ost-Österreich sind nach offiziellen Schätzungen bereits 90 Prozent der Bäume schwer geschädigt. Insektenforscher berichten, daß die gefräßige Motte vor etwa sieben Jahren vermutlich aus Amerika nach Mazedonien eingeschleppt wurde und sich seitdem explosionsartig vermehrt hat. Vor drei Jahren erreichten die Insekten die Südgrenze Österreichs. Inzwischen wollen die Wissenschaftler die ersten Baumschädlinge sogar schon in Bayern gesichtet haben.

„Die Leute werden aufschreien, wenn es nächstes Jahr in den bayerischen Biergärten keinen Schatten mehr gibt und ihnen das welke Laub in die Gläser fällt“, glaubt Georg Scheibelreiter, Biologe und Mitverfasser einer ersten Studie über die weiß-braun gestreiften Nachtfalter. Laut Scheibelreiter legt jede weibliche Motte etwa hundert Eier. Die Raupen fressen sich so lange durch das Grün, bis alle Saftbahnen durchtrennt sind und sich das Kastanienblatt einrollt. Kurz darauf schlüpft eine neue Mottengeneration, und das dreimal pro Sommer. Spätestens im September hängt der Baum nur noch voller abgestorbener Blätter, in denen die Puppen überwintern.

Maximal fünf Jahre, schätzen Forstleute, hält eine gesunde Kastanie einen massiven Mottenbefall durch. Um die Schädlingsbekämpfung zu koordinieren, müßten nach Ansicht von Insektenforscher Scheibelreiter österreichische und deutsche Behörden wesentlich besser zusammenarbeiten als bisher. Ansonsten drohe ein Kastaniensterben großen Ausmaßes.

In Wien werfen die berühmten Praterbäume bereits ihre Blätter ab. „Als wir vor einem Jahr die ersten größeren Schäden durch Mottenlarven festgestellt haben, dachten wir noch, daß es sich von alleine geben wird“, sagt Peter Fischer- Colbrie, Chef der Bundesgartendirektion. Vor der chemischen Keule schrecke er trotz der dramatischen Situation zurück. „Die Belastung durch Spritzgifte wäre für die Menschen viel zu groß“, meint Stadtgartendirektor Paul Schiller. Die forstliche Bundesversuchsanstalt will ab Frühling mit Anti-Motten- Impfstoffen aus den USA experimentieren. Voraussichtliche Kosten pro Baum: rund 140 Mark.

Auf jeden Fall billiger wäre die biologische Bekämpfung der Mottenplage durch „Gegenspieler“- Organismen, die der Entomologe Scheibelreiter aus Amerika einführen will. Ob die Forstleute mit dieser Strategie Erfolg haben werden, können sie aber frühestens in drei Jahren sehen. Unterdessen melden sich bei den Behörden immer mehr Baumliebhaber, die mit ungewöhnlichen Methoden ihre Kastanien heilen wollen. Jüngste Beispiele: Fernbestrahlung und Auspendeln. Jörg J. Meyerhoff