Haltung des Gekreuzigten

■ Havannas 5. Biennale fand während der Fluchtwelle auf Kuba statt. Jetzt ist die Länder-Ausstellung im Aachener Ludwig Forum zu sehen

Unentschieden zwischen Neugier und Mißtrauen näherte sich das Schiff von Odysseus den singenden Sirenen. Die Kunst auf Kuba hat sich einer anderen Navigation verpflichtet: Sie versucht die aktuellen Geschehnisse ein wenig aus dem Abstand zu betrachten.

„Regata“, die Flotte, eine Arbeit des jungen kubanischen Künstlers Kcho (Alexis Leyva), befindet sich fast schon auf einer solchen Reise. Ungefähr hundert kleine Boote, genauso fragil zusammengebastelt wie jene, mit denen Tausende von Kubanern in den letzten Monaten den Weg nach Florida suchten, ergeben im Umriß als Flotte bei ihm wiederum den Körper eines in seiner Ausdehnung beliebig zu vergrößernden Bootes. Auf der 5. Biennale von Havanna – viele munkelten von der womöglich letzten – im Mai dieses Jahres wurde das Werk in einem Gewölbe der historischen Festung „El Morro“ in der Hafeneinfahrt von Havanna aufgestellt. Das war vor dem Ausbruch der Krise. Der Künstler plazierte „die Flotte“ so, daß der Bug in Richtung Norden, nach Florida, zeigte. Ein Kompaß an der Spitze der Installation angebracht, war bereits nach wenigen Tagen verschwunden. Jemand hatte ihn mitgenommen – in der Hoffnung, sein Ziel im Norden sicher zu erreichen.

Kchos Bezugnahme auf die aktuellen Fluchtbewegungen aus allen Ländern der Dritten Welt steht ganz im Sinne des Konzeptes und der Tradition der Biennale. Seit ihrer Gründung im Jahre 1984 verlangt sie von den Künstlern sozialpolitische Verantwortung, streng im Gefolge der kubanischen Revolution. Auch thematisch bleibt der Mensch als politisches Wesen im Zentrum der Betrachtung.

Um „Migration und Kunst“ ging es in diesem Jahr, um die Flüchtlingsbewegungen und Völkerwanderungen aus den sogenannten armen Ländern in die wirtschaftlich prosperierenden Gebiete. Dabei ist Llilian Llanes als Direktorin der Biennale und des „Centro Wifredo Lam“ zusammen mit ihren Mitarbeitern eine plötzlich heikle Vorausschau unter schwierigsten ökonomischen Bedingungen gelungen. Denn daß die zumeist selbstreflexiven Arbeiten der Künstler in diesen Wochen mit aktuellen Nachrichtenbildern korrespondieren würden, kam auch für die kubanischen Teilnehmer einigermaßen überraschend. „Die Kunst spürt die Revolutionen voraus, aber die Revolutionen werden nicht von den Künstlern gemacht.“ So kommentierte 1974 Alejo Carpentier, einer der bedeutendsten Schriftsteller Lateinamerikas und einer der wichtigsten exilierten kubanischen Intellektuellen, die seismographische Kraft der Ästhetik.

Zwanzig Jahre später scheint Carpentiers These nicht minder verläßlich zu sein. Viele der kubanischen Künstler und Intellektuellen – einige sprechen von bald 80 Prozent – wollen ihr Land verlassen. Immer wieder reden sie von „innerer und äußerer Migration“ und der damit verbundenen Resignation. Die Auseinandersetzung mit diesem Thema hat längst den bloß ästhetischen Diskurs verlassen und Einzug in den Alltag der Künstler gehalten. Sie bauen zwar keine Flöße, aber lassen sich geistig wie viele ihrer Landsleute ebenso von der Sehnsucht nach konkreten anderen Ufern treiben.

Sehnsucht, Angst und Visionen des Scheiterns trägt die junge Kubanerin Sandra Ramos in zehn alten Koffern mit sich herum. Sie hängen geöffnet nebeneinander an einer Wand aufgereiht. Im Inneren der Koffer zeigt sie allerlei bunte Träume vom Luxus in der Neuen Welt im Wechsel mit apokalyptischen Todesszenarien gescheiterter Fluchtversuche. Blieben die Gepäckstücke verschlossen, so würden sie ihren Inhalt auch dem forschenden Blick des anderen verbergen. „Migraciones II“ sind fast kindlich gesetzte Malereien, die ihre Kraft aus dem Ensemble der Zeichen beziehen – Traumarbeit als Reisegepäck.

Nicht zufällig bedienten sich die meisten Künstler der Biennale einer Bildsprache, die aus dem zweidimensionalen Bild heraustritt und räumlich wird. Die Zeichen, der Dynamik von Museumsraum und aktueller Zeit ausgeliefert, bleiben vergänglich, sie beschreiben eher Phasen, Abschnitte und Provisorien. Viele Arbeiten müssen für anknüpfende Ausstellungen sogar neu ausgestaltet werden und stellen damit alte Kategorien und Konzepte der Musealisierung in Frage. In ihrer Vergänglichkeit entzieht oder verweigert sich diese Kunst zunehmend dem gängigen Markt.

Sprachfragmente aus Erde und Schlamm

Der aus Uruguay stammende und nun im schwedischen Exil lebende Künstler Carlos Capélan arbeitet mit dem Raum, indem er ihm seine Arbeit einverleibt – er höhlt ihn aus, indem er durch Auftragen von zu Schlamm angemischter Erde neue Strukturen von Zeichen und Sprachfragmenten den alten Schichten (und Geschichten) hinzufügt, sie überlagert oder tilgt. Die Festung von Havanna, vorübergehend und nur widerstrebend vom kubanischen Militär für die Ausstellung zur Verfügung gestellt, bot Capélan dafür einen einmaligen Ort.

Den eindringlichsten Beitrag zum Thema „Randgruppen“ lieferte Fernando Arias aus Kolumbien: „Seropositivo“, „HIV positiv“. Gegen die Isolation und emotionale Verlassenheit von Aidskranken klebte Arias 12.000 Laborblutproben aneinander und beleuchtete sie mit Schwarzlicht, so daß der Eindruck von Tiefe entstand. Wie in einem Schwimmbecken schien das Bild seines eigenen Körpers in der Haltung eines Gekreuzigten darin zu versinken.

Das Bild vom Überwinden aller Schwellen, Grenzen, Ängste und Hindernisse, um am Ende ein nicht genau definiertes Ziel zu erreichen, ist für die Biennale von Havanna konkret geworden. Vor einer Woche wurde die Ausstellung nach Europa geholt. Professor Wolfgang Becker, Direktor des Ludwig Forums für internationale Kunst in Aachen, hat zusammen mit dem Sammler Peter Ludwig deren Übernahme geplant. Carlos Capélan hat diesen Austausch in Havanna aus seiner Sicht formuliert: „Diese Biennale wird zum ersten Mal den Weg gehen, den die Menschen in den armen Ländern gehen möchten – nach Norden.“ Erika Kimmel / Bernd Isecke

„Die 5. Biennale von Havanna. Eine Auswahl“, bis 15.1. im Ludwig Forum, Aachen.