■ Gedanken zu den Parteien am Ende der Bonner Republik
: Die CDU muß sich spalten

Ist die gegenwärtige Krise der FDP wirklich nur auf ihre konturlose Politik zurückzuführen? Wie wird in den nächsten Jahren das politische Spektrum im vereinten Deutschland aussehen? Was kommt nach der Bonner Republik? Zwei Kräfte scheinen an Gewicht zu verlieren. Es handelt sich zum einen um die neue radikale Rechte, bisher parteipolitisch repräsentiert vor allem von den „Republikanern“; und zum anderen um die Liberalen.

Von den schrumpfenden Parteien am rechten Rand und in der Mitte profitiert vor allem eine Partei: die CDU. Mehr und mehr wird sie zu einer janusköpfigen Partei. Der Spagat zwischen deutschnationalen Standpunkten und europäisch, modernistisch-liberaler Orientierung vergrößert die Reichweite der Partei Helmut Kohls, stellt sie aber schon heute vor eine Zerreißprobe. Zwei in diesem Jahr erschienene Bücher von CDU-Politikern, „Deutschland driftet“ von Friedbert Pflüger sowie „Und der Zukunft zugewandt“ von Wolfgang Schäuble, machen die Distanz zwischen beiden Positionen in der CDU besonders deutlich.

Pflügers Liberalismus und seine Ablehnung deutschnationaler Tendenzen scheinen überholt, Schäubles Plädoyer für gesundes Nationalbewußtsein hingegen die Parole der Stunde zu sein. Ist die Schwächung liberaler Positionen nicht Ausdruck neuer konservativer, nationalistischer Gesinnung in Deutschland?

Auch international weht den Befürwortern der offenen Gesellschaft und des Pluralismus ein immer kräftigerer Wind ins Gesicht. „Sittenverfall“ und „Werteverlust“ in westlichen Demokratien sind die beliebten Vorwürfe einer weltweiten Koalition von Feinden der offenen Gesellschaft. Klage über den Verlust von Transzendenz eint rechtskonservative europäische Politiker wie Schäuble und Vertreter fundamentalistischer Politik in muslimischen Ländern.

Tatsächlich befinden sich die offenen Industriegesellschaften in einer schwierigen Übergangsphase. Auflösungserscheinungen in der Gesellschaft werden von einer tiefsitzenden, auch materiellen Zukunftsangst begleitet. Berücksichtigt man dies, erlangen die politischen Vibrationen im vereinten Deutschland eine noch größere Kraft. Die Schwäche der rechtsradikalen Parteien, trotz der günstigen ideologischen Konjunktur für ihre Gesinnung, geht einher mit der immer unkritischeren Übernahme ihrer Positionen durch Parteien, Politiker und Teile der Intelligenz, die im bürgerlichen Lager anzusiedeln sind oder früher sogar links davon standen.

In Deutschland, wo Geist und Macht sich weniger vertragen als anderswo, repräsentiert der vielzitierte „unpolitische“ Autor Botho Strauß die eine, der Politiker Schäuble die andere Variante der neuen geistig-moralischen Orientierung. Beide stoßen in Felder vor, die lange Jahre von der meinungsmachenden Intelligenz der Bundesrepublik vernachlässigt worden sind. Hauptfeld ist der Begriff des Nationalen.

In Schäubles Äußerungen zum Begriff des Nationalen steht jedoch kein Wort darüber, daß es in Deutschland niemals nationales Denken jenseits der völkischen Tradition gegeben hat. Folglich müßte jemand, der diesen Begriff für das Deutschland von heute zurückgewinnen will, erst ein modernes Verständnis von Nation entwickeln. Dazu gehörte als erstes die Frage von Zugehörigkeit und Staatsbürgerschaft diskutiert, und man müßte das geltende, an der Abstammung orientierte jus sanguinis mit dem jus soli ergänzen.

Doch Schäuble rekrutiert den Begriff des Nationalen einzig aus der Vergangenheit. Für die deutsche Gegenwart mit ihren sieben Millionen politisch entrechteten Einwanderern hat er keine Konzepte. Wer in einem Nationalstaat deutscher Ausprägung nicht mehr als Ausländer leben möchte, müßte also auswandern. Angesichts der deutschen Geschichte wäre ein derartiger Schritt durchaus verständlich.

Deutschland braucht mehr denn je das, was verlorenzugehen droht: eine klare Trennung deutschnationaler politischer Kräfte von den liberaldemokratischen. Es ist schwer zu fassen, daß Politiker wie Schäuble und Pflüger in ein und derselben Partei sind. Es ist keine Tragödie, daß sich die FDP politisch an die CDU annäherte (außer für sie selbst). Tragisch aber ist es, wenn die CDU zum trojanischen Pferd rechtskonservativer Ideologien wird.

Die bundesrepublikanische Linke mit ihren althergebrachten Denkschablonen hat nicht sehen wollen, daß im bürgerlichen Lager viele Stimmen wahrnehmbar sind, die für ein offenes, modernes und tolerantes Deutschland plädieren. Das ist durchaus im Sinne einer Wirtschaftspolitik, wie sie von der Koalition befürwortet und gefördert wird. Was nutzt schließlich eine nationale Politik im internationalen Wirtschaftskontext?

Der geistige und politische Kurs im neuen Deutschland wird nicht mehr von links bestimmt. Nach dem Zusammenbruch linker Ideologien herrscht bis in die SPD hinein Rat- und Orientierungslosigkeit, gewürzt mit Larmoyanz und Zynismus. Es fehlt an greifbaren Konzepten für die Zukunft.

Wieder einmal entscheidet also das bürgerliche Lager über die Zukunft des Landes. Um Deutschland nicht in eine Katastrophe zu führen, die vielleicht ganz anders aussähe als am Ende der Weimarer Republik (ohne deshalb weniger katastrophal zu sein), müßte sich das Land läutern. Die Sehnsucht in der Bevölkerung nach starken Männern ist wach, das Vertrauen in die Institutionen angeschlagen. In einer solchen Zeit bedarf es der Klarheit. Die Grenzen zwischen den Nationalkonservativen und Liberalkonservativen in der CDU hätten schon vor den Bundestagswahlen deutlicher gezogen werden müssen. Man tat dies aus wahltaktischen Erwägungen nicht.

Was aber spricht dagegen, daß an die Stelle dieser janusköpfigen Partei zwei Parteien treten: eine konservative, deutschnationale, europafeindliche Partei und eine liberalkonservative, an der Moderne orientierte Partei, die, zusammen mit anderen Kräften, das vereinte Deutschland weitertragen könnte auf seinem Weg hin zu einem pluralistischen Staat.

Aber auch jene Wähler und Wählerinnen, die zwischen „Republikanern“, CSU/CDU und SPD vagabundieren, hätten dann eine politische Heimat. Es gäbe keinen Grund mehr zur Heuchelei und zur Erfindung von Tarnbegriffen wie etwa dem „Protestwähler“. Nicht der Ruf nach Verboten für rechte Parteien stärkt die Demokratie, sondern die Attraktivität und Überzeugungskraft liberaler Grundpositionen. Meine Damen und Herren in der CDU, überlegen Sie es sich. Machen Sie sich nicht zu „nützlichen Idioten“ der konservativen Revolution! Zafer Senoçak

Publizist und Autor in Berlin; zuletzt erschien: „Der gebrochene Blick nach Westen“