Keine Sicherheitsmängel festgestellt

■ Die vor 14 Jahren in der deutschen Meyer-Werft gebaute „Estonia“ kenterte innerhalb von fünf Minuten / Von 964 Passagieren kamen 840 ums Leben

Als das erste Schiff und der erste Helikopter an der Unfallstelle eintrafen – etwa eine Stunde nach dem SOS-Ruf –, war von der „Estonia“ schon nichts mehr zu sehen. Die finnische Seerettung hatte den SOS-Ruf der „Estonia“ um 0.24 Uhr aufgefangen: Er brach nach den Worten „Wir haben eine Schlagseite von 20 bis 30 Grad“ mitten im Satz ab. Nach Aussagen von geretteten Augenzeugen hatte die Fähre urplötzlich schwere Schlagseite bekommen und war „in weniger als fünf Minuten“ gesunken. Die aus dem Meer geretteten Schiffbrüchigen hatten sich auf Rettungsflöße geflüchtet. In dem nur etwa 12-13 Grad kalten Wasser war ansonsten laut Medizinern wegen der schnellen Unterkühlung nur eine Überlebenschance von etwa einer halben Stunde gegeben.

Zum Zeitpunkt der Katastrophe herrschte eine Windstärke von 15-20 m/sek. Meteorologisch gilt eine Windstärke von mehr als 24 m/sek als „voller Sturm“. Wegen einer auf 25 bis 30 m/sek ansteigenden Sturmstärke im Lauf des Mittwoch morgens war die Rettungsaktion äußerst erschwert. Von Hubschraubern aus versuchte man schwer unterkühlte Überlebende aus den Rettungsinseln mit Rettungswinden hochzuziehen, was wegen des hohen Wellengangs von sechs bis sieben Metern aber nur in Einzelfällen gelang. Gestern vormittag waren alle der etwa 50 bis 60 Rettungsinseln der „Estonia“, die sich beim Untergang losgerissen und selbständig aufgeblasen hatten, durchsucht worden. Nur in etwa jeder vierten fand man Überlebende. Aus dem Wasser konnten nur noch Tote geborgen werden.

Insgesamt sind 126 Personen gerettet worden. Da nach Angaben des finnischen Rettungsdienstes 964 Menschen an Bord waren, muß mit insgesamt 840 Toten gerechnet werden.

Die „Estonia“ hatte gegen 18 Uhr am Dienstag abend von Tallin aus zu ihrer Überfahrt nach Stockholm abgelegt, wo sie gestern um 10 Uhr eintreffen sollte. An Bord befanden sich überwiegend schwedische Passagiere, Touristen und Konferenzreisende. Die „Estonia“ wurde im Jahre 1980 auf der Meyer-Werft in Papenburg als „Viking Sally“ gebaut und befand sich seither im Ostseefährverkehr. Zunächst zwischen Schweden und Finnland, seit 18 Monaten als „Estonia“ zwischen Tallin und Stockholm. Sie kann 2.000 Passagiere und 460 Fahrzeuge befördern.

Die „Estonia“ fährt mit estnischer Besatzung unter estnischer Flagge und gehört der „Estline“, die wiederum im Eigentum des estnischen Staats und der schwedischen Reederei „Nordström & Thulin“ steht. Das Fährschiff gilt bei der schwedischen Seeinspektion als moderne Konstruktion. Seit der Ausflaggung nach Estland sind formal die estnischen Behörden für die Kontrolle des Schiffes zuständig. Die schwedische Seesicherheit hat in den letzten 18 Monaten das Schiff viermal im Hafen besichtigt, zuletzt am 3. März 1994.

Irgendwelche Sicherheitsmängel wurden dabei ebensowenig gefunden wie eine mangelnde Bereitschaft bei der Besatzung bemerkt. Die „Estonia“ selbst wurde seit 14 Jahren in der Ostsee eingesetzt, sie hatte wesentlich schwerere Stürme ohne Probleme überstanden und war, soweit in Schweden bekannt, nur in einen einzigen schweren Unfall verwickelt: im November 1988 war sie vor Stockholm auf Grund gelaufen.