Bundeswehr zieht ohne Musterung

■ Wehrdienstpflichtige sollen ihren Dienst antreten / Armee beruft sich auf die „Erhaltung der Verteidigungsbereitschaft“

Das Berliner Kreiswehrersatzamt (KWEA) zieht seit Anfang August ohne gesetzliche Grundlage Wehrdienstpflichtige ein. Darauf hat gestern die „Kampagne gegen Wehrpflicht“ hingewiesen. Die 45 Betroffenen, die ausschließlich dem Jahrgang 1969 angehören, sollen zum 4. Oktober in die Kasernen einrücken, obwohl sie noch nicht gemustert worden sind. Der Grund für nicht erfolgte Musterung ist eine Gesetzeslücke, die die Betroffenen genutzt haben. Nach dem Wehrpflichtgesetz dürfen nämlich nur diejenigen eingezogen werden, die gemustert worden sind. Wer bei den Musterungen fehlte, konnte dem Bund solange ein Schnippchen schlagen, bis er zu alt war. Für die Angehörigen des 69er Jahrgangs ist der 4. Oktober dieses Jahres Stichtag.

Diesen Fluchtweg will die Bundeswehr jetzt offensichtlich versperren. Sie begründet ihre Maßnahme in den Einberufungsbescheiden mit der „Erhaltung der Verteidigungsbereitschaft der BRD“ und der „Wahrung der Wehrgerechtigkeit“. Die Einberufungsbescheide, die lediglich, so heißt es offiziell, „aufgrund der Aktenlage“ erstellt wurden, stufen die Betroffenen trotz fehlender, gesetzlich vorgeschriebener ärztlicher Untersuchung als „voll verwendungsfähig“ ein. Eventuelle „gesundheitliche Einschränkungen“ sollen, so das KWEA, erst in der Kaserne festgestellt werden.

Eine Vorgehensweise, die selbst in der Bundeswehr auf Verwunderung stößt. Während im KWEA gestern nachmittag niemand mehr für eine Stellungnahme zu erreichen war, äußerte sich Presseoffizier Wolfgang Dobing erstaunt. Ihm seien keine solche Fälle bekannt, „das kann ich mir nicht vorstellen, das kann nicht sein“.

Das Berliner Verwaltungsgericht wird da deutlicher. Nach Ansicht der 23. Kammer hat das Berliner Kreiswehrersatzamt gegen das Gesetz verstoßen. Ende September gestanden die Richter einem 25jährigen, der auf Rat der „Kampagne gegen Wehrpflicht“ Widerspruch gegen den Bescheid eingelegt hatte, eine Aufschiebung der Einberufung zu. „An der Rechtmäßigkeit des Musterungsbescheids bestehen ernstliche Zweifel“, für eine „Musterung nach Aktenlage“ fehle es an der gesetzlichen Grundlage, so das Gericht. Das KWEA sei „nicht befugt“, vor der Einberufung „ganz auf eine ärztliche Untersuchung zu verzichten“.

Erleichterung bei den Mitarbeitern der „Kampagne gegen Wehrpflicht“, die 35 Betroffene betreuen. Nachdem das Verwaltungsgericht in zwei weiteren Fällen ebenfalls gegen die Blitzaktion der Bundeswehr entschieden hatte, nahm das KWEA bei 16 weiteren Männern den Einberufungsbescheid zurück. „Die wissen“, freut sich Christian Herz, Sprecher der Kampagne, „daß sie sich voll in die Nesseln gesetzt haben.“

Für den 24jährigen Max Dessler bedeutet die Rücknahme eine „ungeheure Erleichterung“. Der Elektriker, der dreimal der Musterung entschuldigt entgangen war, hatte erst am vergangenen Donnerstag unvorbereitet einen Brief von seinem zukünftigen Kompaniechef erhalten: „Hiermit möchte ich Ihnen erste Informationen zu Ihrem Dienst geben“, schrieb dieser.

Trotz der nun erfolgten Rücknahme ist Dressler, für den die Einberufung „die schlimmste Nachricht des Jahres“ war, skeptisch: „Ich traue mich noch nicht, mich zu freuen.“ Und auch die Mitarbeiter der Kampagne wollen mit Blick auf die Jahrgänge 1970 und 1971 noch abwarten, bevor sie Entwarnung geben. Es sei zu befürchten, daß „sich die Bundeswehr etwas Neues einfallen läßt“, so Christian Herz. „Das kann auch nur ein Testballon gewesen sein.“ Anne-Kathrin Schulz